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Elissa Mailänder Koslov: Gewalt im Dienstalltag

Die SS-Aufseherinnen des Konzentrations- und Vernichtungslagers Majdanek (1942 - 1944)

Abstract

 

Diese Arbeit wurde mit dem Herbert Steiner-Preis 2008 ausgezeichnet.

 

 

Das Projekt versteht sich als eine historisch-anthropologische Arbeit über Gewaltpraktiken im Konzentrationslager. Sie gründet auf einem zweifachen Erkenntnisinteresse: Zum einen geht es darum, das Gewaltverhalten der Akteurinnen und Akteure zu identifizieren und zu analysieren. Zum anderen sollen auch die sozio-kulturellen Kontexte und Prozesse untersucht werden, in denen diese Gewalthandlungen "denkbar" sind.

 

Ich hoffe in vier Richtungen neue Erkenntnisse geliefert zu haben:

 

1) Den Anpassungs- und Eingewöhnungsprozess der Aufseherinnen in das "KZ-Universum" (David Rousset, L'Univers concentrationnaire, Paris 1946) beleuchtet zu haben. Für die jungen, zum überwiegenden Teil um 1920 herum geborenen Frauen, die großteils ledig waren und aus einem sozial nicht privilegierten Milieu stammten, war der Aufseherinnendienst in erster Linie eine gut bezahlter, sicherer Arbeitsplatz, der den Frauen obendrein einen Beamtenstatus bot. Für die ehemaligen Fabrikarbeiterinnen und Hausmädchen bedeutete dies einen sozialen Aufstieg, außerhalb eines ideologischen Kontextes.

 

Die erste "Konzentrationslager-Erfahrung" («expérience concentrationnaire», Michael Pollak, L'expérience concentrationnaire. Essai sur le maintien de l'identité sociale, Paris 2000.) machten die Neurekrutinnen im zentralen Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück, das auch für die in Majdanek tätigen Aufseherinnen als Ausbildungslager diente. Deshalb ist dieses Lager auch für die Majdanekgruppe von zentraler Bedeutung. Den Beobachtungen ehemaliger politischer Ravensbrückhäftlinge zufolge entwickelten sich die neu rekrutierten deutschen und österreichischen Frauen, anfangs noch unsicher, verschämt und schüchtern, innerhalb von nur wenigen Wochen zu "SS-Aufseherinnen". Die Tatsache, dass diese jungen Frauen in einem Konzentrationslager und somit in einem para-militärischen Raum lebten, ist alles andere als nebensächlich. Es ist weiter zu berücksichtigen, dass die Eingliederung in eine derartige "Institution" nicht nur Zwang bedeutete, sondern den Frauen gleichzeitig auch Opportunitäten und Erfahrungen bot, die von ihnen als positiv eingeschätzt wurden. So bedeutete z. B. das Tragen der

 

Uniformen und Waffen eine tägliche Machterfahrung, und auch die Zugehörigkeit zu einer vermeintlich homogenen Gruppe barg ein attraktives Identifikationsangebot. Uniformen und Waffen, Regeln und Papierkram, all dies waren zum einen konstitutive Elemente für eine professionelle Identifizierung bzw. Zugehörigkeit zu einem Korps; zum anderen verliehen sie der Aufseherinnenarbeit eine gewisse "Legitimität". Es ist weiter wichtig, sich vor Augen zu halten, dass das Leben und Arbeiten im Konzentrationslager nicht allein bedeutete, Regeln zu befolgen, Befehle auszuführen, kaserniert zu sein und einer militärischen Hierarchie zu gehorchen. Trotz der vermeintlichen Starrheit der Vorschriften bot der tägliche Dienst auch dem subalternen SS-Personal in der Praxis vielerlei Möglichkeiten, die Regeln zu umgehen und das Lagerleben eigenwillig zu gestalten.

 

2) Die Untersuchung des SS-Personals von Majdanek erlaubt ein besseres Verständnis der Funktionsweise dieses Lagers, das keine statische "Institution", sondern vielmehr eine äußerst dynamische Arena mit einer Vielzahl von AkteurInnen war. Bei der Nahsicht tut sich ein Abgrund zwischen den offiziellen Vorschriften und der tatsächlichen Praxis vor Ort auf: Das KZ-Personal (Aufseherinnen wie SS-Männer) verfügte auf allen Dienstebenen über Handlungsspielräume und Interpretationsmöglichkeiten der Anordnungen, von denen es auch reichlich Gebrauch machte. Hier hat das Materialcorpus erstaunlich viel "hergegeben". Der Handlungsrahmen der Aufseherinnen (und SS-Männer) war zwar durch den "institutionellen" und politischen Kontext geprägt, die Akteurinnen (und Akteure) vor Ort eigneten sich jedoch diese "Rahmenbedingungen" sowie ihr soziales Umfeld eigenwillig an. So zeigten beispielsweise die "körperlichen Züchtigungen" in Ravensbrück wie in Majdanek, aber auch der Umgang mit "Fluchtversuchen" in Majdanek eine starke emotionale Aufladung von Seiten der Akteurinnen und Akteure, die dem Vernichtungsprozess ihre "persönliche Note" verliehen. Zugleich verstand das KZ-Personal seinen KZ-Dienst als Arbeit, die es "gut" auszuführen galt. Die Aufseherinnen teilten dieses Arbeitsverständnis mit den SS-Männern und erlebten das Lager als Arbeitsplatz.

 

Doch wie ist nun die Radikalisierung des Verhaltens der Aufseherinnen in Majdanek zu erklären, wo Frauen, die sich in Ravensbrück durch keine besondere Gewalttätigkeit hervorgetan hatten, plötzlich ein äußerst brutales und grausames Verhalten an den Tag legten? Ein wichtiger Erklärungsgrund für diese Verhaltensveränderungen liegt wohl in der Besonderheit Majdaneks, das Konzentrations- und Vernichtungslager in einem war. Die Ankunft der Aufseherinnen in Lublin im Oktober 1942 fiel mit dem Beginn der Umsetzung der "Endlösung" und dem Einsetzen von Massenvergasungen zusammen. In Majdanek wurden die Frauen somit mit einem ganz anderen KZ-Universum konfrontiert, als sie es zuvor in Ravensbrück kennen gelernt hatten. Auch wenn die Aufseherinnen nicht direkt mit der Tötung beauftragt waren, so nahmen sie dennoch durch die Selektionen am Massenvernichtungsprozess teil. Gewalt, Tod und Vernichtung waren allgegenwärtig in der Lebenswelt der Aufseherinnen. Der Gestank von verbranntem Menschenfleisch, das Hören von Schüssen sowie der Anblick von Leichen, die im Lager eingesammelt bzw. herumtransportiert wurden, all das begleitete den Dienstalltag, aber auch den Feierabend und die Freizeit. Dies führt uns zu ihrem Vermögen bzw. zu ihren Versuchen, diesen Alltag zu "handhaben": Die Pausen und Witze der Aufseherinnen und SS-Männer, ihre Freizeitgestaltung, aber auch ihr Dienstverständnis sind wichtig, um zu verstehen, wie dieses KZ-Personal über Jahre ihre "Arbeit" verrichten konnte.

 

3) Ich wollte mit dieser Untersuchung auch zu einem "besseren" Verständnis der Gewalt in Konzentrationslagern beitragen. Für Majdanek habe ich eine quantitive und qualitative Gewaltsteigerung registiert, die sich nicht nur gegen jüdische Häftlinge, sondern auch gegen polnische und sowjetische Gefangene richtete. Diese Gewaltklimax ist auf eine Vielzahl von Faktoren zurückzuführen, ich möchte hier drei aufgreifen:

 

Zum einen führe ich die Radikalisierung des Verhaltens auf die ambivalenten Frustrationserfahrungen zurück. Die Versetzung nach Majdanek im Oktober 1942, in der das KZ-Personal mit besonders prekären sanitären Zuständen konfrontiert wurde und zumeist selbst an Seuchen erkrankte, verursachte bei den Aufseherinnen (aber auch bei den SS-Männern) einen Schock. Der Kontakt mit den Häftlingen, die zum überwiegenden Teil aus Osteuropa stammten und durch die drastischen Haftbedingungen in einer schrecklichen körperlichen Verfassung waren, wurde von den meisten Aufseherinnen als besonders unangenehm empfunden. Andererseits schienen sie die Vorteile, welche die deutsche Kolonialgesellschaft den Besatzerinnen bot, und vor allem die zahlreichen Gelegenheiten, sich am Hab und Gut der europäischen Juden zu bereichern, zu schätzen. Dennoch müssen die Zumutungen, ob real (Seuchen, Distanz zur Familie, ungewohnte geographische und klimatische Bedingungen, spartanische Unterkunft) oder imaginär (Verachtung für das Klima und die polnische Kultur, relative Nähe zur Front und damit verbundene Radikalisierung der Feindbilder), ernst genommen werden. Diese Erfahrungen verursachten Gefühle der Frustration, des Ekels vor den Häftlingen und der Angst vor Ansteckung, und diese trugen nicht zuletzt zur Radikaliserung des Verhaltens bei.

 

Zum anderen führt uns die massive und alltägliche Gewaltpraxis in Majdanek zu den sozialen Dynamiken von Gewalt: Hier ist vorauszuschicken, dass Majdanek bereits vor dem Eintreffen der Aufseherinnen und eigentlich von Beginn an ein außerordentlich brutaler (Lebensbedingungen) und gewalttätiger Ort war. In der Gesellschaft der Lager-SS, die als eine geschlossene Gesellschaft bezeichnet werden kann, wurde ein Großteil der Handlungen vor den Augen der KollegInnen ausgeführt. Die Gruppendynamiken sind somit wichtig, um die Gewalthandlungen zu verstehen, denn eine Aufseherin (bzw. ein SS-Mann) handelte selten außerhalb dieses sozialen Kontextes. Die tägliche Gewaltausübung gegenüber den Häftlingen diente nicht allein dazu, die Gefangenen zu beherrschen, zu brechen und zu zerstören, wie dies die KZ-Forschung bislang unterstrich. Diese Gewalthandlungen richteten sich auch – wenn nicht vor allem – an die umstehenden Kollegen – Männer und Frauen. Diese Gewaltausübung diente u.a. dazu, Machtbeziehungen (Michael Foucault) zwischen dem KZ-Personal auszuhandeln. Zu zeigen, wozu man/frau "fähig" war, war eine Form bzw. ein Anspruch der Selbstbehauptung innerhalb der Kollegenschaft. Somit können die Gewalttaten auch als Kommunikation zwischen dem Lagerpersonal angesehen werden.

 

Schließlich bleiben Gewaltpraktiken zu erklären, die darauf bedacht sind, zu demütigen, zu beschmutzen, Schmerz zuzufügen. Um diese zu analysieren, habe ich auf das Konzept der Grausamkeit zurückgegriffen. Die grausame Tat verschafft dem Täter eine vitale Erfahrung der eigenen Über-Macht (Elias Canetti). Grausamkeit kann nur in einem asymmetrischen Machtgefälle ausgeübt werden. Es geht darum, dem Opfer so viel Schmerz wie möglich zuzufügen, es weitestmöglich zu erniedrigen und zu beschmutzen. Die grausame Geste ist scharfsinnig und präzis, wie Véronique Nahoum-Grappe es in ihren Arbeiten gezeigt hat. Grausamkeit kann somit als eine "subtile" Kommunikationsform des Gewaltakteurs/der Gewaltakteurin mit seinem/ihrem Opfer sowie den ZuschauerInnen, sofern es welche gibt, bezeichnet werden. Auch hier ist der mikrosoziale Kontext von Bedeutung. Obwohl die grausamen Aufseherinnen bzw. SS-Männer von ihren KollegInnen zumeist gefürchtet wurden, genossen sie nicht notgedrungen ein besonderes Prestige, im Gegenteil. Und trotzdem bildete sich in Majdanek eine bestimmte Solidarität heraus, die eine Form von sozialer Legitimation darstellte. Der Kontext der Straffreiheit, dies hat Nahoum-Grappe eindrücklich betont, stärkt die Machtposition des/der grausam Handelnden, die zugleich auch eine Grundvoraussetzung für ihre Handlungen ist. Er schafft weiter eine Spirale der Beschleunigung, eine Steigerung der Grenzüberschreitung sowie des Einfallsreichtums des Akteurs/der Akteurin.

 

4) Die Geschlechterbeziehungen und Geschlechterdynamiken stellen einen weiteren zentralen Untersuchungsgegenstand meiner Arbeit dar. In Majdanek standen die stationierten Aufseherinnen, deren Zahl die zwanzig nicht überschritt, einer Überzahl von SS-Männern gegenüber, deren Zahl auf 1200 geschätzt wird. Somit waren die Aufseherinnen eine verschwindende Minderheit innerhalb einer paramilitärischen Männergesellschaft. Ihnen deshalb aber pauschal den Status von "Beherrschten" zuzusprechen, wird, wie die Arbeit gezeigt hat, der sozialen Realität vor Ort nicht gerecht.

 

Was die Gewaltpraktiken betrifft, stellte sich in Majdanek eine Dynamik ein, die wir als "gegendert" bezeichnen können: Zum einen schienen die Aufseherinnen wie SS-Männer ihre Gewalthandlungen besonders zu beschleunigen bzw. zu verschärfen, wenn ein Zuschauer des anderen Geschlechts in der Nähe war. Zum anderen zeigte sich ein signifikanter Unterschied in der Gewaltpraxis: Während sich die Aufseherinnen und SS-Männer gerne ihrer Lederstiefel bedienten, um Häftlinge zu misshandeln (und zu töten), zeigte sich, dass die Aufseherinnen so gut wie nie zur Pistole griffen. Dabei war es ihnen offiziell laut Lagerordnung gestattet, eine Dienstwaffe zu tragen und diese auch zu bedienen, im Rahmen der Vorschriften, die aber auch für die männlichen Kollegen galten. Diese Tabuisierung setzte sich somit innerhalb der Lager-SS vor Ort durch. Die von SS-Männern den Aufseherinnen zugeschriebene vermeintliche Ungeschicktheit im Handhaben der Schusswaffen, die von den Aufseherinnen auch angenommen wurde, bestärkte die durch die Präsenz von uniformierten und bewaffneten Aufseherinnen irritierten Männer und schuf so einen neuen exklusiven "männlichen" Raum.

 

Abschließend:

 

Das Konzentrationslager Majdanek war ein Ort eines extremen und unmenschlichen Überlebenskampfes für die einen. Aber zugleich war es für die anderen ein Arbeitsplatz, ein Wohnort und ein Ort der Unterhaltung. Um es zugespitzter zu formulieren: Majdanek war in erster Linie eine SS-Gesellschaft, die dem Lager sein Gepräge verlieh. Um die Gewalt- und Tötungspraktiken zu erklären, um zu verstehen, wie der KZ-Dienst Tag für Tag über Jahre hindurch verrichtet werden konnte, müssen in erster Linie der KZ-Alltag sowie die soziokulturellen Dynamiken vor Ort untersucht werden

 

Obgleich die nationalsozialistischen Konzentrationslager Produkte einer progressiven rassistischen Vernichtungspolitik waren, so waren diese Lager und besonders Majdanek in erster Linie auch multifunktionale, inkohärente, schlecht verwaltete, chaotische und korrupte Orte. Die Gewalt und Grausamkeit gegenüber den Häftlingen war eine Antwort auf diese chaotischen Arbeitsbedingungen, die von den Akteurinnen und Akteuren großteils selbst geschaffen wurden, und zugleich aber auch eine Vernichtungs"arbeit". Es bleibt nun die Dynamik zwischen dem Situativen und der Ideologie weiter zu untersuchen, in dem Sinne, dass die Praktiken vor Ort das Wertesystem bestätigen bzw. zugleich auch ein eigenes Wertesystem produzieren.

 

 

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