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Der München-Gladbach Transport

Aus: Peter Schwarz: Mord durch Hunger. "Wilde Euthanasie" und "Aktion Brandt" am Steinhof in der NS-Zeit, Vortrag im Rahmen des Symposions "Zur Geschichte der NS-Euthanasie in Wien", Wien, Mai 2000

 

 

Abschließend soll der Patiententransport aus dem St. Josefshaus bei Hardt aus München-Gladbach näher untersucht werden. Zwischen dem 19. und 21. Mai 1943 wurden insgesamt 144 männliche Pfleglinge, zwei Drittel davon Jugendliche, in der Anstalt Steinhof, Pflegeabteilung Männer, im Pavillon 18, aufgenommen. Laut einer Auflistung vom Januar 1945 wurden nach Eintreffen der Patienten 49 von ihnen der Städtischen Nervenklinik für Kinder übergeben. 5 Pfleglinge wurden in die Heimat entlassen, einer in die neurologische Abteilung, Pavillon 24, transferiert. (81) Bis Ende 1945 sterben 82 Patienten in der Pflegeanstalt. (82) Aus der intensiven Nachkriegskorrespondenz zwischen den Anstalten Steinhof und München-Gladbach kann ferner der Schluss gezogen werden, dass in der Städtischen Nervenklinik für Kinder weitere 35 Patienten umkamen. Das Jahr 1945 haben nachweislich nur 20 der ursprünglich 144 Pfleglinge überlebt (mehr als 80 % verstorben), die über Vermittlung der Deutschen Delegation 1947 in das Rheinland zurücktransferiert wurden. (83)

 

Eine Analyse von 31 im Krankengeschichtenarchiv des Psychiatrischen Krankenhauses Baumgartner Höhe aufgefundenen Krankengeschichtsakten der aus München-Gladbach transferierten Patienten erlaubt einen konkreten Einblick in ihren Leidensweg: (84) Von diesen 31 Patienten sind 23 verstorben, acht haben überlebt. Mehr als die Hälfte von ihnen (17) hatte das 14. Lebensalter noch nicht erreicht, ein einziger war über 20 Jahre alt. Alle 31 Patienten wiesen die Diagnose "angeborener bzw. früh erworbener Schwachsinn" auf. Arbeits- und Bildungsfähigkeit sowie Pflegeaufwendigkeit dürften selektionsentscheidend für den Abtransport aus München-Gladbach gewesen sein. Die den Krankengeschichtsakten beiliegenden Gewichtskurven belegen das Sterben an Hunger bis ins Detail: 14 Pfleglinge verlieren bis zu 5 Kilo, vier bis zu 10 Kilo, drei bis zu 15 Kilo, zwei bis zu 20 Kilo und einer über 20 Kilo. Neben den Gewichtskurven deuten auch viele Krankheitssymptome, wie z. B. Ödeme, und insbesondere die Todesursachen auf eine gezielte, systematische Unterernährung hin: 15 Pfleglinge sterben an "Marasmus universalis", allgemeiner körperlicher Entkräftung, sieben an "Enterocolitis bzw. Enteritis acuta", Entzündungen des Dünn- und Dickdarms. Es wurde schon dargelegt, dass ein abgemagerter, um seine Abwehrkräfte geschwächter Körper besonders anfällig für Infektionen ist. Nach den Aufzeichnungen der Krankengeschichtsakten dürften fast alle Kinder und Jugendlichen bei der Aufnahme am Steinhof im Mai 1943 an einer Hautkrätze gelitten haben, an der sie schon in ihrer Herkunftsanstalt erkrankt waren. Bei ihrer Ankunft am Steinhof wurden die Kinder serienweise vom Pavillon 18 in den Pavillon 22, die "Infektionsabteilung-Männer", zur Scabiesbehandlung verlegt. In der Folge starben 13 Patienten an Lungentuberkulose. (85)

 

Auffallend ist außerdem, dass der Decursus der Krankengeschichtsakten zwei bis drei Wochen vor dem Tod der Patienten durch eine erhebliche Standardisierung gekennzeichnet ist, die in aller Regel mit der Beschreibung der Zustandsverschlechterung des jeweiligen Patienten beginnt. An Symptomen werden Ödeme, Dünnstühle bzw. Durchfälle - oftmals mit Blut gemischt - geschildert. Diese Eintragungen werden ergänzt durch die lapidaren Kommentare: "Bettlägerig, pflegebedürftig, teilnahmslos, hinfällig, verfällt." Zur Behandlung der Durchfälle wird meist kurz vor dem Tod eine Versetzung in den Pavillon 22 ärztlich angeordnet. Die Krankengeschichtsakten enden mit dem Eintrag der klinischen Todesursache, die mehrheitlich auf "Marasmus" lautet. (86)

 

Die Korrespondenz mit den Angehörigen der Patienten orientierte sich streng an den Richtlinien, die im Rundschreiben des Leiters der Verrechnungsstelle der Heil- und Pflegeanstalten vom 10. Juli 1943 vorgegeben waren. Bei Todesfällen wurden die Angehörigen vorschriftsgemäß mittels Telegramm verständigt, das auch die Mitteilung beinhaltete, die Beisetzung des Patienten auf dem Baumgartner Friedhof erfolgen zu lassen, falls nicht umgehend anderweitige Bestimmungen getroffen werden. (87) Die Todesbenachrichtigungen erfolgten in den meisten Fällen aber auch in brieflicher Form. Man gab sich dabei die größte Mühe, die Todesumstände zu beschönigen: " [...] Ihr Sohn [erkrankte] an heftigen Durchfällen, denen er erlegen ist. Er ist sanft hinübergeschlummert." (88) Dabei wurde durchaus an das Motiv des "Gnadentods" angeknüpft: "Es sei Ihnen ein Trost, dass das Kind trotz der schweren Erkrankung offensichtlich nicht gelitten hat, denn es war immer heiter und brummte in der gewohnten Weise vor sich hin. Und nun ist es von allen Leiden erlöst." (89) Doz. Bertha wiederum bereicherte diese Gnadentodversion noch um das neue Argument der "wiederaufflammenden Lungenschwindsucht", das er stereotyp einsetzte: "[...] die Todesursache [war] Lungenschwindsucht [...], die er sich wohl schon in der Kindheit zugezogen haben dürfte, [die] dann unter günstigen Verhältnissen zum Stillstand kam, nun neu aufflackerte und zur unaufhaltsamen Auflösung geführt hat. Sein Heimgang war still und friedlich; es ist ihm sicher nicht zum Bewusstsein gekommen, dass es mit ihm zu Ende geht." (90) Zahlreiche Eintragungen in den Krankengeschichtsakten enttarnen jedoch das Bild des "sanften Entschlafens", des "Nichtwissens um den eigenen Zustand" als Lüge: "Das Kind leidet sichtlich, weint still vor sich hin", wird einen Tag vor dem Tod eines Jungen in seiner Krankengeschichte von Dr. Baader formuliert. (91) In der Krankengeschichte eines nur noch 16 Kilo wiegenden, pflegebedürftigen, zwölfjährigen Jungen wird eine Woche vor seinem Tod festgehalten: "Sieht elend aus [...], nennt sich den 'Mann Gottes'." (92) Ein anderer todkranker, neunjähriger Junge verlangt die "Monika" [Mundharmonika] seines eben verstorbenen Mitpfleglings, "er brauche sie ja nicht mehr, sei doch schon tot - tot." (93)

 

Mitunter lassen sich Lügen im ersten Schock nicht mehr aufrechterhalten. Als sich ein Vater eines verstorbenen Pfleglings im Juli 1946 an die Anstaltsdirektion mit der ganz offenen Frage wendet, ob auch sein Kind ein Opfer des Nationalsozialismus wurde, antwortet Dr. Baader eher verzweifelt bis hilflos: "Da müssen wir Ihnen sagen, dass Ihr Kind durch die schwierige Geburt und durch die im zarten Kindesalter durchgemachte Hirnentzündung in seiner Lebenskraft schwer geschädigt war und auch unter normalen Verhältnissen kein langes Leben vor sich gehabt hätte. Gewiss war ihm die knappe Kriegskost und besonders der Nahrungsmangel, der mit der Besetzung Wiens durch die Rote Armee begann, nicht zuträglich, ist sogar mitschuldig an seinem frühzeitlichen Ableben." (94) Diese Sätze verraten nicht nur einiges über das damals am Steinhof herrschende Arzt-Patienten-Verhältnis. Ob Dr. Baader überhaupt die Tragweite dessen, was sie hier zugegeben hat, je wirklich bewusst wurde, darf angezweifelt werden.

 

 

Anmerkungen

 

81) "Pflegeanstalt, Männerabteilung. Stand der Mitte Mai 1943 hier aus München-Gladbach direkt übernommenen Pfleglinge", 2. 1. 1945, Direktionsregistratur (ohne Nummer), Archiv des PKH Baumgartner Höhe.

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82) Auswertung der Patienten-Indizes 1943-1945, Archiv PKH Baumgartner Höhe.

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83) Korrespondenz der Anstaltsdirektion mit Otto Schaumburg, Galkhausen bei Langenfeld/Nord-Rheinprovinz, vom 10. 8. 1946 betr. Pfleglinge aus Anstalten des Rheinlandes, Direktionsregistratur 605/46, Archiv PKH Baumgartner Höhe; Korrespondenz der Anstaltsdirektion mit der Deutschen Delegation in Wien III, Metternichgasse 3, vom 21. 6. 1946 betr. Heimbeförderung nach Deutschland, Direktionsregistratur 444/46, Archiv PKH Baumgartner Höhe.

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84) Es handelt sich um folgende 31 im Krankengeschichtenarchiv PKH Baumgartner Höhe aufgefundene Krankengeschichten von aus München-Gladbach nach Steinhof überstellten Pfleglingen: 366/43 (Josef B.), 369/43 (Johannes B.), 379/43 (Heinz E.), 381/43 (Heinz F.), 400/43 (Peter J.), 402/43 (Rudolf K.), 415/43 (Wolfgang H.), 416/43 (Alfred H.), 417/43 (Erich H.), 420/43 (Hans H.), 424/43 (Mathias K.), 432/43 (Johann K.), 434/43 (Johann L.), 444/43 (Heinz M.), 448/43 (Hans M.), 449/43 (Paul M.), 451/43 (Karl Heinz M.), 455/43 (Karl Heinz O.), 457/43 (Gerd P.), 483/43 (Josef P.), 485/43 (Josef Po.), 489/43 (Heinz Wilhelm P.), 490/43 (Gerhard R.), 492/43 (Paul R.), 507/43 (Johannes W.), 508/43 (Viktor Simon von W.), 509/43 (Hans W.), 510/43 (Matthias W.), 516/43 (Peter W.), 590/45 (Wilhelm O.), 637/45 (Jakob W.).

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85) Auswertung der aufgelisteten 31 Krankengeschichten durch den Verf.

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86) Auswertung der aufgelisteten 31 Krankengeschichten durch den Verf.

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87) Siehe beispielsweise Krankengeschichte 492/43 (Paul R.), Krankengeschichtenarchiv PKH Baumgartner Höhe.

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88) Schreiben der Anstaltsdirektion an Frau Gertrude Berghäuser vom 4. 7. 1946 betr. den am 4. 8. 1945 verstorbenen Sohn Josef P., Krankengeschichte 483/43, Krankengeschichtenarchiv PKH Baumgartner Höhe.

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89) Schreiben der Anstaltsdirektion an Frau Wachendorf vom 7. 8. 1943 betr. den am 11. 7. 1943 verstorbenen Sohn Johannes W., Krankengeschichte 507/43, Krankengeschichtenarchiv PKH Baumgartner Höhe.

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90) Schreiben des ärztlichen Direktors Doz. Dr. Bertha an Jakob Breuer vom 17. 4. 1944 betr. den am 1. 4. 1944 verstorbenen Sohn Josef B., Krankengeschichte 366/43, Krankengeschichtenarchiv PKH Baumgartner Höhe.

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91) Eintrag von Dr. Baader in der Krankengeschichte 415/43 (Wolfgang H.) vom 11. 3. 1945, Krankengeschichtenarchiv PKH Baumgartner Höhe.

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92) Eintrag von Dr. Baader in der Krankengeschichte 418/43 (Erich H.) vom 29. 4. 1944, Krankengeschichtenarchiv PKH Baumgartner Höhe.

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93) Eintrag von Dr. Baader in der Krankengeschichte 516/43 (Peter W.) vom 25. 9. 1945, Krankengeschichtenarchiv PKH Baumgartner Höhe.

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94) Schreiben von Dr. Ida Baader an Herrn Rudolf Kaufmann vom 10. 7. 1946 betr. den am 28. 5. 1945 verstorbenen Sohn Rudolf K., Krankengeschichte 402/43, Krankengeschichtenarchiv PKH Baumgartner Höhe., Krankengeschichtenarchiv PKH Baumgartner Höhe.

 

 

>> "Aktion-Brandt"-Transporte in die Heil- und Pflegeanstalt

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