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Vertreibung und Vernichtung

Neue quantitative und qualitative Forschungen zu Exil und Holocaust

Projektleitung: Univ.-Doz. Mag. Dr. Brigitte Bailer

 

Projektkoordination: Dr. Claudia Kuretsidis-Haider (e-mail)

 

Projektbearbeitung: Dr. Ursula Schwarz

 

Laufzeit: Juli 2014 bis Juni 2017

 

Finanzierung: Jubiläumsfonds der österreichischen Nationalbank, Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz

 

 

In 46 Großtransporten und mehreren kleineren Transporten wurden insgesamt mehr als 48.000 Jüdinnen und Juden aus Wien deportiert. 95 Prozent der Deportierten fielen dem nationalsozialistischen Massenmord zum Opfer. Bis 1942 mussten über 130.000 Menschen Österreich aus politischen und / oder rassistischen Gründen verlassen - 100.000 allein zwischen 11. März 1938 und Mai 1939 -, die große Mehrheit waren Jüdinnen und Juden im Sinne der "Nürnberger Gesetze".

 

Das Forschungsvorhaben soll Aussagen zur sozialen Zusammensetzung, zur Geschichte der Vernichtung und Vertreibung und zum späteren Schicksal dieser zahlenmäßig größten Gruppe von NS-Verfolgten, die auch dem größten Vernichtungsdruck ausgesetzt war, ermöglichen. Projektziel ist die Analyse der soziostrukturellen Unterschiede sowie deren Kontextualisierung in die Geschichte des österreichischen Judentums, seiner Kultur und seiner sozialen Situation vor der Verfolgung mittels Verschneidung der in den empirischen DÖW-Projekten der letzten Jahre erfassten Massendaten. Damit können die Sozialstruktur der österreichischen Jüdinnen und Juden, die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltmaßnahmen (Vertreibung und Vernichtung) geworden sind, widergespiegelt und Fragen u. a. zu Alter / Geschlecht / sozialer Herkunft / regionaler Verteilung und Herkunft / Situation vor der Verfolgung - Zeitpunkt der Verfolgung / Familienschicksalen (soziale Position der Familie, regionale Unterschiede) / geschlechtsspezifischen Unterschiede / Zusammenhang Rückkehr mit dem Schicksal von Eltern und Geschwistern / "Knick in der Lebenslinie" beantwortet werden.

 

Durch dieses Projekt werden somit für die österreichische jüdische Gesamtgesellschaft erstmals Aussagen zur sozialen Zusammensetzung, zur Geschichte der Vernichtung und Vertreibung und zum späteren Schicksal dieser zahlenmäßig größten Gruppe von NS-Verfolgten, die auch dem größten Vernichtungsdruck ausgesetzt war, also eine sozialstrukturelle Analyse und eine kollektivbiographische Annäherung möglich gemacht.

 

 

Empirische Vorprojekte

 

 

 

Fragestellungen und Forschungshypothesen

 

Der Hauptfokus des Projekts liegt auf der Sozialstruktur der Opfergruppen, d.h. in welchen empirisch erfassbaren Parametern sich die im Holocaust ermordeten bzw. ums Leben gekommenen Personen von jenen unterscheiden, denen die Flucht bzw. das Überleben gelang. Zur Analyse dieser Differenzen können vor dem Hintergrund des jüdischen Lebens vor 1938 sowie der österreichischen Gesellschaft im Allgemeinen in jenen Jahren vorliegende statistische Angaben der Israelitischen Kultusgemeinde Wien vor 1938 herangezogen werden. Folgende Fragestellungen stehen dabei im Vordergrund und können anhand des Datenmaterials der empirischen Vorprojekte beantwortet werden:

 

  • Altersstruktur
    Die bisherigen Forschungen des DÖW weisen darauf hin, dass das Durchschnittsalter der Geflüchteten unter jenem der Deportierten lag. Durch die Verschneidung der in den Datenbanken erfassten Geburtsdaten wird es möglich sein, die Altersstruktur der Juden und Jüdinnen, die Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie geworden sind, und jener, denen es noch gelungen ist, das Land zu verlassen, darzustellen.

  • Geburtsorte
    Viele österreichische Jüdinnen und Juden wurden in den ehemaligen Kronländern der Habsburg-Monarchie geboren. Durch eine Verknüpfung mit den späteren Wohnorten sowie Arbeitgebern lassen sich Migrationsbewegungen bis in das 20. Jahrhundert hinein nachverfolgen und ein demographisches Bild der jüdischen Bevölkerung nachzeichnen.

  • Geschlechterverteilung
    Während nach bisherigen Erkenntnissen die Geschlechterverteilung bei den ExilantInnen annähernd war, zeigen die Deportationslisten einen deutlichen Überhang an Frauen. Anhand der zusammenzuführenden Massendaten wird diese Annahme verifiziert oder falsifiziert werden können. Der Frage nach den Gründen für die ungleiche geschlechtsspezifische Gewichtung wird anhand der vorhandenen wissenschaftlichen Literatur sowie der Erinnerungsliteratur nachzugehen sein.

  • Berufsstruktur
    Eine erste Auswertung zum Berufsstatus der ExilantInnen weist einen überdurchschnittlich hohen Anteil an unselbständig Beschäftigten auf. Diese Tendenz zeigt sich auch bei einer Auswertung der "Berufe", die einen hohen Anteil an Angestellten und ArbeiterInnen in Klein- und Mittelbetrieben (tw. im Familienbesitz) v.a. im Bereich von Handel und Gewerbe ausweist. Ein Ziel des gegenständlichen Projekts wird es unter anderem sein, die geläufige Annahme zu überprüfen, dass es vor allem wohlhabenden Jüdinnen und Juden gelungen sei, rechtzeitig Österreich zu verlassen. Interessant ist auch die Frage, inwieweit die erzwungene Flucht einen "Karriereknick" bedeutete, also ob der oder die Vertriebene die begonnene Berufsausbildung fortsetzen und abschließen oder den erlernten Beruf im Zielland weiter ausüben konnte.

  • Sozialer Status
    Dieser Parameter weist starke Überschneidungen mit jenem des Berufsstatus auf. Auch hier steht die Frage im Raum, ob das Überleben - wie in oft auch antisemitisch konnotierten Behauptungen festgestellt - an den ökonomischen Möglichkeiten der Opfer gelegen war. Oder kann vielmehr der wirtschaftliche Hintergrund nur in Kombination mit anderen Faktoren wie Alter, Bildung, Geschlecht zur Erklärung dienen? Welche der genannten Faktoren wogen schwerer?

  • Wohnorte
    Zuzüglich der geschätzten Zahl von Juden und Jüdinnen im Sinne der "Nürnberger Gesetze" liegen die Schätzungen zwischen 201.000 und 214.000 Juden und Jüdinnen, die zur Zeit des "Anschlusses" in Österreich gelebt haben. Die Folgen der antijüdischen Politik der Nationalsozialisten spiegeln sich in der Volkszählung vom 17. Mai 1939 und der Zahlen der Registrierung der Juden und Jüdinnen im Sinne der Nürnberger Gesetze vom 15.9.1939 wider: zu diesem Zeitpunkt lebten nur mehr 96.042 in Österreich, davon 92.982 in Wien.
    Bei einer Verknüpfung der Wohnadressen kann ein graphisches Modell erstellt werden, wie die Jüdinnen und Juden aus einzelnen Wiener Bezirke systematisch vertrieben und in zunehmendem Maße auf ein eng begrenztes Wohngebiet konzentriert wurden. Denn obwohl Wien kein verwaltungsmäßig definiertes Ghetto hatte, fand infolge dieser Konzentration in bestimmten Wohngegenden eine Art von Ghettoisierung statt, die auch den Zweck hatte, einen raschen und effizienten Zugriff auf die Deportationsopfer sicherzustellen.

  • Fluchtgrund und Fluchtzeitpunkt sowie Exilländer
    Unmittelbar nach dem "Anschluss" im März 1938 gab es eine erste - noch ungeregelte - Fluchtwelle der zumeist auf Grund der "Nürnberger Gesetze" verfolgten ÖsterreicherInnen. Die ab August 1938 von Adolf Eichmann aufgebaute Zentralstelle für jüdische Auswanderung koordinierte die bürokratische Prozedur, erhöhte die Effizienz des Beraubungsvorgangs und vereinte alle zuständigen Behörden unter einem Dach. (1) Per Erlass mit Wirkung vom 23. Oktober 1941 untersagte Heinrich Himmler den Jüdinnen und Juden die Auswanderung.
    Bisherige Forschungen, nicht zuletzt des DÖW, haben gezeigt, dass die Hauptzielländer der Flucht die USA, gefolgt von Großbritannien und verschiedene lateinamerikanische Länder waren. Andere europäische Länder weisen einen hohen Anteil auf, weil sie in der Regel das Erstfluchtland waren, von wo aus die weitere Auswanderung erfolgt ist. Die ExilantInnen blieben in diesen Ländern oft nur kurze Zeit, allerdings gib es auch zahlreiche Fälle, wo die Flucht erst nach Monaten oder Jahren fortgesetzt wurde: in der Tschechoslowakei, Frankreich und Belgien jeweils nach der (teilweisen) Annexion der Länder durch das Deutsche Reich. Die Schweiz erklärte sich bei der Konferenz von Evian (im Juli 1938) zum Transitland.

    Es ist die Tendenz feststellbar, dass eher Frauen bei ihren Eltern zurückblieben und junge Männer auswanderten. Dabei sind folgende Fragen von Interesse:
    • Inwieweit entschied die Verwurzelung in jüdischer Tradition und Kultur über Flucht oder Verbleib auf österreichischem Gebiet? Welchen Impact hatte der Umstand, dass die jüdische Gesellschaft stark patriarchal geprägt war? Oder ist der Zusammenhang vielmehr in der in jener Zeit generell patriarchal strukturierten österreichischen Gesellschaft zu suchen bzw. reichen die Frauen zugeschriebenen Rollenmuster der Zwischenkriegszeit zur Erklärung?
    • Können Aussagen über den Einfluss politischer Einstellung/politischen Engagements bzw. Assimilation gemacht werden?
    • Hing die Frage der Emigration mit der Bildung der Eltern zusammen? Haben also vor allem Gebildete, AkademikerInnen ihre Kinder weggeschickt und sind selbst in Österreich geblieben?
    • Von welchen Faktoren hing der gewählte Fluchtweg ab? Gab es überhaupt relevante Faktoren? Gab es präferierte Ziele für jüngere bzw. besser/schlechter gebildete und/oder wohlhabende/arme Frauen/Männer?
    • Gab es soziale Netzwerke im Exil? Hatten "alte Netzwerke" in Österreich Einfluss auf soziale Netzwerke im Exil? Entstanden Netzwerke auf den Fluchtwegen?

 

Die Auswertung der in den genannten DÖW-Projekten empirisch erhobenen Massendaten erfolgt unter Anwendung von Methoden der quantitativen und qualitativen Sozialforschung. Mit der Erhebung von Informationen, die über operationalisierbare Daten hinausgehen, ist die Ausweitung des Blickwinkels möglich: von rein statistischen Aussagen hin zu einer narrativen Analyse und Würdigung bestimmter Aspekte der Lebensumstände vor 1938, der Umstände von Verfolgung, Vertreibung und Flucht, der Anpassung an das Leben in den Aufnahmeländern sowie dem Schicksal jener, denen die Flucht nicht gelang (Konzentration in Sammelwohnungen, Deportation, Ermordung).

 

Neben der quantitativen und qualitativen Sozialforschung liegen dem Projekt auch kollektivbiografische sowie migrationstheoretische Methoden zugrunde. Ego-Dokumente - Autobiographien sowie biographische Interviews - werden hier ebenso wertvolle zusätzliche Aufschlüsse geben können wie Einzelfalldarstellungen aus dem umfangreichen Bestand der ausgewerteten Anwaltsakten, die in Einzelfällen gleichfalls die Lebensgeschichte nachvollziehbar machen.

 

 

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Themen

Exil | Deportation

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Claudia Kuretsidis-Haider

Neue quantitative und qualitative Forschungen zu Exil und Holocaust

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