Vertreibung - Exil - Emigration (I)
Projektleitung: Univ.-Doz. Dr. Brigitte Bailer
Projektkoordination: Mag. Dr. Claudia Kuretsidis-Haider (e-mail)
(bis November 2011 sowie Projektantragstellung: Mag. Dr. Herwig Czech)
SachbearbeiterInnen: Dr. Ursula Schwarz, Mag. Manfred Mugrauer
Projektfinanzierung (2010 bis 2013): Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, Österreichischer Zukunftsfonds, Stadt Wien, Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz
Bis 1942 mussten über 130.000 Menschen Österreich aus politischen und/oder rassistischen Gründen verlassen. Die überwältigende Mehrheit waren Jüdinnen und Juden im Sinne der "Nürnberger Gesetze". Die quantitative und qualitative Auswertung des Teilnachlasses der Rechtsanwaltskanzlei Hugo Ebner soll auf empirischer Grundlage und in Form einer sozialstrukturellen und kollektivbiographischen Analyse neue Erkenntnisse zur sozialen Zusammensetzung, zur Vertreibungsgeschichte, aber auch zum späteren Schicksal der erzwungenen EmigrantInnen erarbeiten.
2006 erhielt das DÖW einen Aktenbestand des verstorbenen Rechtsanwalts Hugo Ebner - selbst vom März 1938 bis Mitte 1939 in den KZ Dachau und Buchenwald in Haft und später im Exil - zur Aufbewahrung und wissenschaftlichen Bearbeitung. Die Kanzlei, in der Ebner mit verschiedenen Partnern und Partnerinnen zusammenarbeitete, hatte sich u. a. auf die Vertretung von NS-Verfolgten spezialisiert, und zwar in erster Linie von ExilantInnen, d. h. aus Österreich vertriebenen Jüdinnen und Juden, aber auch politisch Verfolgten. Der Bestand umfasst 5593 Akten, aus denen nicht nur die Vertreibungsgeschichte, sondern auch Einzelheiten der Lebensumstände und der Ausbildungs- und Berufslaufbahn der Betroffenen vor und nach der Flucht hervorgehen und die auch Aussagen über das Nachkriegsschicksal der Betroffenen erlauben. Dazu kommen etwa 3100 Akten aus der Kanzlei Steinbach, die von der Kanzlei Ebner übernommen wurde.
Die Ebner-Akten beinhalten (da diese Angaben zur Erlangung einer Pension wichtig waren) detaillierte Informationen zu Ausbildung und Berufen vor 1938, aber auch zu den beruflichen Tätigkeiten während der Emigration sowie nach 1945. Bei Anträgen auf Witwen- oder Waisenpensionen sind auch Angaben zu Familienangehörigen vorhanden.
Der Umfang der Akten reicht von wenigen Blättern bis - in der Mehrzahl - zu umfangreichen, mehrere Jahrzehnte im Leben der KlientInnen umfassenden Konvoluten. Weiters enthalten die Akten oftmals persönlich gehaltene Briefe, da Hugo Ebner und seine KanzleipartnerInnen über ein umfangreiches Netzwerk unter den NS-Vertriebenen verfügten. Die Auswertung dieser Briefe gibt zusätzliche wertvolle Aufschlüsse über die Lebenswirklichkeit der in vielen Ländern verstreut lebenden ExilantInnen (z. B. USA, Großbritannien, zahlreiche lateinamerikanische Länder, Frankreich, Australien).
Die Erfassung der Akten erfolgt in einer mehrdimensional strukturierten Datenbank:
- Auf einer Ebene wurden Informationen (Personendaten, Aufenthaltsorte vor der erzwungenen Emigration und im Exilland, Beschäftigungen, Verwandtschaftsverhältnisse) zu jenen Personen eingegeben, in deren Auftrag die Kanzlei Ebner bei den Sozialversicherungsträgern (vor allem Sozialversicherung der Angestellten, ArbeiterInnen bzw. der Gewerblichen Wirtschaft) in erster Linie Pensionsansprüche geltend machte.
- Die zweite Ebene bildet die Tätigkeit der Kanzlei Ebner ab. Hier wird dargestellt, in welcher Weise den MandantInnen zu einer Pension verholfen werden konnte: beginnend mit dem Antrag an die Pensionsversicherungsanstalt, über allfällige Begünstigungsverfahren (ob und inwieweit welcher Zeitraum des Exils als Pensionszeit angerechnet wurde), freiwillige Weiterversicherungsbeiträge bis hin zum positiv oder negativ ausgestellten Pensionsbescheid und zu allfälligen Klagen dagegen (etwa aufgrund der Falschberechnung der Pensionshöhe oder weil das Pensionsantrittsdatum nicht richtig angesetzt wurde) sowie, da es sich in der Mehrheit um ältere MandantInnen handelte, Anträgen für den Hilflosenzuschuss bzw. das Pflegegeld.
Aufgrund der anwaltlichen Auflagen sowie datenschutzrechtlicher Bestimmungen werden die erfassten Daten anonymisiert und kollektivbiographisch ausgewertet. Ziel ist es, durch eine quantifizierende Aufarbeitung und Auswertung des Bestandes den sozialen Hintergrund der ExilantInnen, lebensgeschichtliche Brüche infolge der Flucht, genderspezifische Aspekte des Überlebens im Zufluchtsland ebenso wie die Nachkriegsgeschichte der Vertreibung herauszuarbeiten. Damit ermöglicht dieser Bestand eine Pionierarbeit zu wesentlichen Faktoren der vom NS-Regime erzwungenen Emigration, die bislang vor allem anhand von Einzelschicksalen oder in Bezug auf einzelne Berufsgruppen oder Zielländer bearbeitet wurde.
Das 2010 angelaufene Projekt wurde im Sommer 2013 abgeschlossen, es müssen aber noch umfassende Revisionsarbeiten durchgeführt werden, um das Datenmaterial zu optimieren. Seit Sommer 2014 werden die Pensionsakten von zwei weiteren Rechtsanwaltskanzleien (Egon Steinbach, Philippine Fischer) in die Datenbank integriert. Im Frühjahr 2015 hat das DÖW weitere 600 Akten der Nachfolgekanzlei Breitenecker-Kolbitsch-Vana zur Bearbeitung erhalten.