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Irene Messinger: Verfolgung und Widerstand von Fürsorgerinnen aus Wien 1934-1945

Biografien, Netzwerke, Wissenstransfer

Abstract

 

Diese Arbeit wurde mit dem Herbert-Steiner-Preis-Anerkennungspreis 2023 ausgezeichnet.

 

Das Buch stellt Biografien von 80 Wiener Fürsorgerinnen vor, die im Austrofaschismus und / oder im Nationalsozialismus verfolgt waren bzw. sich gegen diese Regime auflehnten. Die Geschichte der Fürsorge – bislang vor allem als Mittäterin gezeichnet – wird somit um die lange ausständige Perspektive der Verfolgten sowie der Widerstandskämpferinnen bereichert.

Unter dem Dollfuß-Schuschnigg Regime ab 1934 mussten einige Fürsorgerinnen als Sozialdemokratinnen ihre Kündigung und die Auflösung ihrer Institutionen erleben, und wegen des zunehmenden Antisemitismus emigrierten jüdische Fürsorgerinnen nach Palästina. Ab 1938 waren zusätzlich jene Fürsorgerinnen verfolgt, die vom NS-Regime als jüdisch definiert wurden oder (weiterhin) im Widerstand aktiv waren. Manche konnten fliehen oder untertauchen, andere erlitten Jahre in Konzentrationslagern oder wurden im Holocaust ermordet. Unter den verfolgten Fürsorgerinnen gab es einige Personen, die Widerstand leisteten, sei es in privaten Netzwerken oder politisch bzw. religiös organisiert.

Für die Erstellung der Kurzbiografien wurde methodisch mittels Biografieforschung gearbeitet und so die Lebensgeschichten mit Schwerpunkt auf ihre Tätigkeit als Fürsorgerin, in der Zeit ihrer Verfolgung in Austrofaschismus und Nationalsozialismus, aber auch nach dem Krieg rekonstruiert. Für die Kurzbiografien wurde in Archiven in Wien und in den Exilländern recherchiert. Mehr als die Hälfte der Biographien basiert auf Personalakten der Stadt Wien oder auf Privatarchiven von Nachkommen, bei denen Fotos und Ego-Dokumente entdeckt werden konnten. Damit wurden neue Quellen der Professions-geschichte erschlossen, die hier erstmalig veröffentlicht werden. Die allermeisten der portraitierten Fürsorgerinnen sind bisher weitgehend unbekannt und werden durch das Buch erstmals vorgestellt.

Die Fürsorgerinnen werden nicht nur als Einzelpersonen portraitiert, sondern im ersten Teil des Buchs mittels kollektivbiografischer Ansätze als Gruppe aus intersektionaler Perspektive in Bezug auf Herkunft, Ausbildung und Berufserfahrungen, Verfolgungsgründe, Alter, usw. hinsichtlich ihrer Unterschiede und Gemeinsamkeiten betrachtet. Private und berufliche Verbindungen innerhalb familiärer, politischer oder religiöser Netzwerke konnten eruiert werden. Diese Netzwerke entstanden weniger durch die Ausbildung (Schönbrunner Erzieherschule, Akademie für soziale Verwaltung der Stadt Wien, Ilse Arlt Schule) als durch die gemeinsame Berufstätigkeit bzw. politische Verortung. Die Arbeitgeber waren die Stadt Wien (Jugendamt, TBC-Fürsorge), private Initiativen (Verein Settlement), konfessionelle Einrichtungen der jüdischen Gemeinde (Fürsorge der IKG oder Heime jüdischer Stiftungen) und christliche Einrichtungen (Erzbischöfliche Hilfsstelle für nichtarische Katholiken), sowie in der entwicklungspsychologischen Forschung (KÜST, Charlotte Bühler), der psychoanalytischen Praxis in Kinderheimen (Anna Freud, August Aichhorn) oder den individualpsychologischen Erziehungsberatungsstellen (Alfred Adler).
Die Zusammenstellung der 80 Biografien wurde so gewählt, dass jeweils die Hälfte im öffentlichen, die andere im privaten Bereich tätig war. Die Auswertung zeigt unterschiedliche Maßnahmen auf, wie politisch unliebsame oder als jüdisch definierte Personen aus dem Dienst der Stadt Wien entfernt bzw. zwangspensioniert werden konnten, aber auch die Zerstörung der sozialdemokratischen (1934) und jüdischen (1938) Institutionen und Wohlfahrtsvereine.

Manche der Fürsorgerinnen waren neben ihrer Berufstätigkeit politisch aktiv, teils in organisierten politischen Widerstandsgruppen und übernahmen Aufgaben in der Arbeiter:innenbewegung bzw. deren Fürsorgeeinrichtungen, der Sozialistischen Arbeiterhilfe (SAH) oder der kommunistischen Roten Hilfe, sie waren im jüdischen oder katholischen Widerstand, oder auch aus dem Exil aktiv, in der französischen Résistance oder in selbst begründeten Organisationen, in den USA oder Kolumbien. Andere wiederum waren alleine oder mit Freundinnen aktiv und versteckten oder unterstützten ihre befreundeten Arbeitskolleginnen und andere verfolgte Personen, die ihrer Hilfe bedurften, es werden auch auf vermeintlich unspektakuläre Formen des Widerstands aufgezeigt wie die Arbeitsverweigerung durch Krankschreibung am Jugendamt. Die jüdische Fürsorge war in der Versorgung der ab 1941 noch in Wien verbliebenen Jüdinnen und Juden immer in einer lebensgefährlichen Situation des Widerstands und auf ihre interkonfessionellen Netzwerke angewiesen.

Der Wissenstransfer ins Exil war schwierig, obwohl sie Berufserfahrung und teils Zusatzqualifikationen mitbrachten. Einige konnten diese anerkennen lassen oder studierten Social Work. Einigen Fürsorgerinnen gelang der Einstieg in den Sozialbereich über die Betreuung von deutschsprachigen Flüchtlingen, sei es in Frankreich oder Palästina. Die nach England geflohene Anna Freud engagierte beim Aufbau ihrer Kriegskinderheime mehrere ebenfalls geflüchtete Kolleginnen aus Wien. Manchen gelang somit ein beruflicher Aufstieg und eine Karriere, die in Österreich vermutlich nicht möglich gewesen wäre, vor allem im Bereich der (Kinder-)Psychoanalyse. Einige waren nicht mehr im Sozialbereich tätig. Die Zahl der politischen Remigrantinnen ist hoch.

Von März 2020 bis Oktober 2021 leitet FH-Prof.in Dr.in Irene Messinger das Forschungsprojekt zu vertriebenen und ermordeten Fürsorgerinnen, gefördert von Zukunftsfonds und Nationalfonds der Republik Österreich. Von Januar 2022 bis Juni 2022 wurde die Auswertung der Akten von Zwangspensionierungen an Wiener Jugendämtern durch ein Wissenschaftsstipendium der Stadt Wien finanziert. Die weitere Auswertung wird durch eine Lehrreduktion und die Unterstützung seitens der FH Campus Wien möglich (8h/Woche).

Die Ergebnisse des zweiten Post-doc Forschungsprojekts von Irene Messinger werden 2024 als Buch und als Open Access Publikation im Verlag nomos zugänglich gemacht.

 

 

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