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Claudia Andrea Spring: "Die Gauleiter fordern das Gesetz dringend!"

Zwangssterilisationen in Wien 1940 - 1945

Abstract

 

Diese Arbeit wurde mit dem Herbert Steiner-Preis 2008 ausgezeichnet.

 

 

Das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" (GzVeN) trat in der "Ostmark" im Jänner 1940 in Kraft, sechs Jahre später als im "Altreich", wo bereits 300.000 Menschen, etwa gleich viele Frauen wie Männer zwangssterilisiert worden waren. Während es ab Kriegsbeginn im "Altreich" kaum noch zu Verfahren kam, wurden in der "Ostmark" mindestens 6000 Frauen und Männer zwischen 1940 und 1945 zwangssterilisiert, für Wien sind 1203 Beschlüsse zur Zwangssterilisation rekonstruierbar.

 

In der "Ostmark" bzw. in Wien, der nach dem "Anschluss" zweitgrößten Stadt des Deutschen Reiches, prägten drei Rahmenbedingungen den Vollzug des GzVeN: erstens die im Herbst 1939 vorgenommenen Einschränkungen des GzVeN, wonach Ärzte nur noch bei besonders großer Fortpflanzungsgefahr der als erbkrank kategorisierten Frauen und Männer ein Verfahren beim Erbgesundheitsgericht einbringen sollten, zweitens der Krieg mit allen dadurch bedingten personellen und organisatorischen Einschränkungen und drittens die NS-Euthanasie: Anders als im "Altreich" waren Zwangssterilisationen nicht die Vorstufe dazu - die Entscheidung über Zwangssterilisation oder Tötung verlief von Anfang an parallel und einige Ärzte in Wien waren für beides verantwortlich.

 

Für die vorliegende Arbeit wurden die erst seit Kurzem der Forschung zugänglichen Akten von 1697 Verfahren am Erbgesundheitsgericht und 266 Beschwerdeverfahren am Erbgesundheitsobergericht Wien quantitativ und qualitativ ausgewertet. Dabei wurde deutlich, dass anders als im "Altreich" in den ersten Jahren des Vollzugs die Verfahren in Wien von Anfang an in beiden Instanzen formal gesehen sehr sorgfältig geführt wurden. Weiters bestanden bei der Vollzugspraxis im Hinblick auf die Geschlechtszugehörigkeit kaum Unterschiede: Frauen und Männer wurden annähernd gleich oft persönlich vor Gericht angehört, die Verfahren dauerten gleich lange, der jeweilige Anteil der Beschlüsse zur Zwangssterilisation war nahezu identisch, nur zur Entscheidungsfindung wurden bei Männern etwas öfter Gutachten eingeholt als bei Frauen.

 

Unübersehbar sind die direkten Auswirkungen des Krieges auf die strukturellen Rahmenbedingungen des Vollzugs. Am Erbgesundheitsgericht Wien waren fast 50 ärztliche Beisitzer tätig. Dass trotz der wiederholt auftretenden Engpässe statt der Akquirierung von Ärztinnen die Verlängerung der Verfahren in Kauf genommen wurde, verdeutlicht die geschlechtsspezifische Machtverteilung der Entscheidungsträger beim Vollzug des GzVeN.

 

Der Entscheidungsspielraum des Erbgesundheitsgerichts Wien wuchs vor allem ab Herbst 1944: durch die Anordnung des Reichsministeriums des Innern, nur noch kriegswichtige Verfahren weiterzuführen, weiters bei der Entscheidung über die noch nicht abgeschlossenen Beschwerdeverfahren nach der im Dezember 1944 erfolgten Einstellung des Erbgesundheitsobergerichts Wien und nicht zuletzt in den von anderen Erbgesundheitsgerichten Anfang 1945 übernommenen Verfahren.

 

Die Richter und Ärzte des Wiener Erbgesundheitsgerichts und Erbgesundheitsobergerichts waren willige Vollstrecker beim radikalen Versuch der Verwirklichung der Vision eines gesunden Volkskörpers, indem sie das GzVeN unbeirrt von sonstigen Rahmenbedingungen vollzogen: ein nationalsozialistisches Unrechtsgesetz, das einen körperlichen Eingriff mit schwerwiegenden und lebenslangen Folgen gegen den Willen der Betroffenen vorsah, für den, anders als bei einer lebensrettenden Operation, keinerlei medizinische Notwendigkeit bestand. Zweifel an den Bestimmungen des GzVeN, Bedenken bei der Verwendung von - auch nach damaligem Wissensstand - unzureichenden medizinischen Diagnosen, Zögern, auch soziale Kriterien in die Beschlussfassung einzubeziehen, mangelnde Handlungsspielräume und versuchte Rückversicherung können bei ihnen ausgeschlossen werden.

 

Nach Kriegsende mussten Richter und Ärzte sich nicht für ihre Mitverantwortung an den Zwangssterilisationen verantworten, geschweige denn davon distanzieren. Dies verwundert nicht, dauert doch das Denken in Erbwerten bis heute ungebrochen an: Das GzVeN wurde zwar im Mai 1945 aufgehoben, doch kündigte Staatskanzler Renner gleichzeitig ein ähnliches Gesetz an; zwangssterilisierte Frauen und Männer wurden erst 50 Jahre nach dem Ende des Krieges bedingt und erst 60 Jahre danach uneingeschränkt als NS-Opfer anerkannt; und bis in die Gegenwart werden vor allem als behindert definierte Frauen ohne ihr Wissen und ohne ihre Zustimmung sterilisiert, ohne dass diese Eingriffe strafrechtliche Konsequenzen nach sich zögen - widersprechen sie doch nicht dem dazu im Strafrecht verankerten Terminus der "guten Sitten".

 

 

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