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Homo Politicus und Kommunikator

Helmut Konrad

Herbert Steiners Engagement in der österreichischen Nachkriegspolitik und im internationalen Wissenschaftsdialog zur Zeit des Kalten Krieges

 

Ansprache im Rahmen der Gedenkveranstaltung für Herbert Steiner (1923-2001), Wien, 18. Juni 2001

 

 

Sehr geehrte Damen und Herren!
Lassen Sie mich hier und heute, wo wir einer der profiliertesten Persönlichkeiten der österreichischen Wissenschaftslandschaft aus der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts gedenken, mit ein paar sehr persönlichen Bemerkungen beginnen. Herbert Steiner war für viele Historikerinnen und Historiker meiner Generation eine wichtige Bezugsperson. Für mich aber war er bedeutend mehr. Er hat mir in den Jahren 1967 und 1968 die Augen geöffnet für das "andere Österreich", hat mein Dissertationsthema mit formuliert und die Realisierung der Arbeit ermöglicht. Er hat mich zur Bewerbung bei Prof. Stadler in Linz ermuntert und er hat mich in den inneren Kreis der ITH, der Linzer Konferenzen zur Arbeitergeschichte, aufgenommen. Unsere Forschungsfelder liefen oftmals parallel. Widerstand und Verfolgung, die Frühgeschichte der Arbeiterbewegung, die Arbeiterkultur. Ich verdanke ihm viele Kontakte in aller Welt, und vieles von dem, was ich realisieren konnte, baute auf dem auf, was Herbert Steiner vorbereitet hatte. Mit seinem Tod ist für mich auch der letzte Stein aus dem Fundament weggefallen, auf dem meine Generation aufgebaut hat. Es liegt nunmehr ausschließlich an uns, in einer ambivalenten Welt zumindest Teile des Erbes zu bewahren, das wir von Herbert Steiners Generation auch als Verpflichtung übernommen haben.

Herbert Steiner hat ein politisches Leben gelebt. Er kam aus einem sozialdemokratischen Elternhaus, sein Vater war Mitglied des Republikanischen Schutzbunds gewesen. Über Kinderfreunde und Rote Falken führte Herbert Steiners Weg, wie der vieler seiner Zeitgenossen, nach links. Ab 1937 ist er Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes. Als Mittelschüler musste er 1938, im Alter von 16 Jahren, aus Österreich fliehen, während seine Eltern der Vernichtungsmaschinerie des Nationalsozialismus zum Opfer fielen. Herbert Steiner arbeitete im Exil bei Young Austria mit. Er bekleidete ab 1940 die Stelle eines Sekretärs und leitete den Verlag Jugend voran, in dem Broschüren in englischer und deutscher Sprache verlegt wurden. Bei Young Austria erhielt er wohl die Grundmaximen seines Politikverständnisses vermittelt, die ihm sein Leben lang die Wegmarkierungen vorgaben. Von einer gefestigten eigenen, d. h. kommunistischen Sichtweise aus war er stets bemüht, über Zäune zu schauen, gemeinsame Interessen mit Andersdenkenden zu entwickeln und übergeordnete gemeinsame Ziele zu formulieren. Das galt von Young Austria über die Freie Österreichische Jugend bis zum Jugendherbergsverband und natürlich auch (und ganz besonders) für die Arbeit im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes und in der ITH. In gewisser Weise hat er so als Person politische Entwicklungen aus späteren Jahrzehnten vorweggenommen, den so genannten "Eurokommunismus" persönlich vorgelebt. Wie viele, die aus dem Exil in England nach Kontinentaleuropa zurückgekehrt sind, hat auch Herbert Steiner mit diesem Verständnis von Politik in den eigenen Reihen nicht nur Freunde gehabt, sondern ist auf Misstrauen gestoßen. Dass er dennoch loyal blieb, hat mich oft verwundert, nicht zuletzt, als wir beide gemeinsam plötzlich aus teils ganz unterschiedlichen, teils überlappenden Gründen zu Feindfiguren des damaligen Regimes in Prag geworden waren. Er hat mir zur Gelassenheit geraten, hat für sich gewusst, die besseren Argumente in diesem unerfreulichen Konflikt auf seiner Seite zu haben, und hat auch mich dazu gebracht, mein damals jugendliches Temperament zu zügeln und die Zeit für uns arbeiten zu lassen.

Die Geschichte der politischen Positionen von Herbert Steiner nach 1945 ist ein Spiegelbild der politischen Rahmenbedingungen, unter denen der Heimkehrer aus dem Exil arbeiten musste. Sieben Jahre lang, bis 1952, war er Bundessekretär der Freien Österreichischen Jugend und Vizepräsident des Österreichischen Jugendherbergsverbandes, ehe ihn erstmals das politische Misstrauen überrollte und er die Funktionen verlor. Als Bezirkssekretär der KPÖ in Meidling konnte er die nächsten Jahre verbringen, eine Tätigkeit, aus der übrigens die Zusammenarbeit mit Hansi Lendwich herrührt, die ihn seither in vielen Funktionen begleitet hat. 1963 gründete er das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, und 1965 konnte er ehrenamtlich die Funktion eines Sekretärs der Historischen Kommission der KPÖ übernehmen, eine Position, aus der er konsequenterweise 1968 entfernt wurde. Formell aber blieb Herbert Steiner Mitglied der KPÖ, er wurde weder ausgeschlossen noch trat er aus.

Herbert Steiners wissenschaftsorganisatorisches Schaffen hätte nicht so eindrucksvoll ausfallen können, wäre er nicht der große Kommunikator und Grenzüberschreiter gewesen. Die Freie Österreichische Jugend war das gemeinsame Feld, auf dem der antifaschistische Konsens die drei legalen politischen Lager von 1945 zusammenführte. Und obwohl später unter anderen politischen Konstellationen die antikommunistische Weltsicht dieses antifaschistische Grundmuster überlagerte und veränderte, blieb ein persönliches Netz an Freundschaften bestehen, mit dem Herbert Steiner operieren konnte. Ich war immer beeindruckt, wie es ihm gelang, konservative, sozialdemokratische und kommunistische Kräfte zu bündeln, Fragen aufzugreifen, die alle drei interessierten, und Institutionen zu schaffen, in denen der alte Grundkonsens lebendig bleiben konnte.

Da über das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes hier und heute aus dem berufenen Mund von Wolfgang Neugebauer die Bedeutung von Herbert Steiner gewürdigt werden wird, möchte ich mich auf die ITH konzentrieren, jene Organisation, der ein guter Teil des Lebenswerkes von Herbert Steiner gehörte, obwohl er formal stets nur als Kassier agierte. Im Jahr 1964 kamen auf Anregung von Bruno Kreisky Rudolf Neck und Herbert Steiner zusammen, um eine internationale Konferenz über die Geschichte der Arbeiterbewegung in den Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie abzuhalten. Für viele Forscherinnen und Forscher aus Osteuropa wurde so erstmals eine Plattform geschaffen, auf der sie sich mit den Kolleginnen und Kollegen aus dem Westen treffen konnten. Herbert Steiner hatte die Kontakte in den Osten und auch jene nach England, und so kam eine bemerkenswerte Konferenz zustande, die nach Weiterführung verlangte. Nach ein paar Jahren wurde schließlich als fixer Standort Linz gefunden, wo gerade Karl R. Stadler aus dem englischen Exil einen Ruf an die junge Universität erhalten hatte und ein Ludwig Boltzmann Institut für die Geschichte der Arbeiterbewegung aufbaute. Die Kammer für Arbeiter und Angestellte bot auf Vermittlung einer weiteren zentralen Persönlichkeit, von Max Lotteraner, den Jägermayrhof als Tagungsort an.
Die "Linzer Konferenzen" sind seit den späten sechziger Jahren ein fixer Bestandteil des wissenschaftlichen Kalenders in unserem Land. Herbert Steiner rief, und alle kamen. Eric Hobsbawm aus London, Susanne Miller aus Bonn, Georges Haupt aus Paris. Dazu die Kolleginnen und Kollegen aus der DDR, aus Ungarn, Polen, der Tschechoslowakei und aus Jugoslawien. Ich nenne hier nur Anna Zarnowska und Felix Tych aus Polen, Janos Jemnitz, Gabor Szekely und Katalyn Soos aus Ungarn, Cveta Knapic-Krhen und France Klopcic aus dem ehemaligen Jugoslawien stellvertretend für viele. Unter der umsichtigen und ausgleichenden Leitung von Rudolf Neck zog Herbert Steiner die Fäden. Er sorgte für die Finanzierung, holte die Hilfe des ÖGB mit Alfred Ströer, wusste immer Rat und fand Wege, die Organisation mit minimaler Struktur am Leben zu halten. Dabei unterstützten ihn viele, an der Spitze wohl und hier stellvertretend für alle genannt, Hansi Lendwich, die als Alter Ego an Herberts Seite agierte.
Und bald griff die ITH auf andere Kontinente aus: Japan wurde zu einer ganz besonderen Erfolgsgeschichte, wo sich ein eigenes Komitee etablierte, das jährlich die ITH beschickt und aus dem ganz hervorragende junge Wissenschafterinnen und Wissenschafter seit vielen Jahren die kulturellen Bande zwischen Japan und Österreich stärkten. Mit der Hilfe der Friedrich Ebert Stiftung in Bonn gelang auch die Ausweitung auf Afrika, und auch China und Indien sind seit vielen Jahren mit Delegationen auf der Konferenz vertreten. Herbert Steiner machte es möglich. Es gelang ihm, Reisen zu finanzieren, Visafragen zu lösen und Sprachbarrieren zu überwinden. Er war in all den Jahren und Jahrzehnten die ITH, bei ihm liefen die Informationen zusammen, bei ihm lagen letztlich die Entscheidungen.
Und es gab genügend Konflikte zu überwinden. Schon in die Gründungsjahre fiel die Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Panzer des Warschauer Pakts, ein Ereignis, das den Kalten Krieg verstärkte und die Position der jungen ITH ernsthaft gefährdete. Intern kam es fast zum Bruch, als der Spanische Bürgerkrieg diskutiert wurde und sich plötzlich die alten Bruchlinien innerhalb der republikanischen Seite auch in der Konferenz auftaten. Und natürlich war der Fall der Berliner Mauer ein einschneidendes Ereignis auch für uns, da die Transformationsprozesse im Osten Europas einerseits unsere Themen insgesamt für einige Zeit obsolet erscheinen ließen, anderseits aber auch alte Strukturen zerbrachen und vielfach auch Konfliktlinien offensichtlich wurden, die in den Jahren des Kalten Krieges nicht wirklich wahrgenommen werden konnten. Als grundlegender Konflikt tat sich aber auch ein Generationskonflikt auf, bei dem ich gerade dazwischenstand. Die Jungen sprachen sich gegen die alten Netzwerke aus, sahen in der ITH stärker ein Vereinstreffen von Veteranen als eine dynamische wissenschaftliche Veranstaltung. Herbert Steiner gelang es, auch diese Klippe zu meistern, indem er die jungen Kritiker integrierte, ihnen Gestaltungsspielraum einräumte und so zu einer inneren Regeneration der Tagung beitrug, ohne die alten Strukturen über Bord zu werfen. Die ITH konnte so beides sein, dynamische Konferenz mit spannenden Themen und ausgewiesenen Referentinnen und Referenten, aber auch ein Ort der eigenen Geschichte, ein Stück Heimat für all jene, die in schwierigen Zeiten in gemeinsamen Bemühungen ein wissenschaftliches Fach geprägt hatten. Ich persönlich sehe gerade diese nun gefundene Mischung als sehr zukunftsträchtig an und bin sicher, dass es Herbert so gesehen hat.

Unbedingt muss aber hier auf Herbert Steiners Verdienste im Bereich der wissenschaftlich-politischen Diplomatie verwiesen werden, die in Linz ihre Plattform fand. Hier waren die Begegnungen von Forschern und Funktionären aus der damaligen DDR und der BRD möglich. Hier trafen sich polnische Oppositionelle mit offiziellen Vertretern von staatlichen Institutionen. Hier kam es zur ersten informellen Begegnung von Palästinensern und Israelis, einer Begegnung, die sich als besonders fruchtbar auch für die Konferenz selbst erwies. Hier fanden albanische Kollegen wieder den Anknüpfungspunkt an die westliche Wissenschaft, hier wurden die nationalen Konflikte des Balkan in wissenschaftliche Bahnen gelenkt, was freilich die historische Entwicklung in dieser Weltregion nicht wirklich beeinflussen konnte. Und von hier aus wurde versucht, das dramatische Schicksal unseres Kollegen Etienne Mbaya in Zentralafrika mit zu beeinflussen und die schlimmsten Konsequenzen abzuwenden. Wissenschaftliche Konfrontationen des Fernen Osten, etwa zwischen Japan und Korea, konnten hier ausgetragen werden, wobei hier wohl auch darauf hinzuweisen ist, dass Herbert Steiner seit 1972 Obmann der Gesellschaft Österreich-KVDR war, die sich bemühte, dem einseitigen Koreabild in der österreichischen Öffentlichkeit entgegenzuwirken.

Schließlich spiegelte sich auch die Öffnungspolitik Chinas bis zu einem gewissen Grad in den Konferenzteilnahmen wider. Herbert Steiner hat am Jägermayrhof in Linz ein politisches und wissenschaftliches Biotop geschaffen. Er führte Profis und Amateure zusammen, bot also auch der frühen "Geschichte von unten" Raum. Er band die Politik ein und kreierte den Käthe Leichter-Staatspreis, bis heute ein Bindeglied zwischen Arbeiter- und Arbeiterinnengeschichte auf der einen und feministischer Wissenschaft auf der anderen Seite. Er stand auch hinter dem Victor Adler Staatspreis für Geschichte der Arbeiterbewegung, der noch immer als eine der wichtigsten Auszeichnungen für die historische Zunft in unserem Land gelten kann. Und er brachte politische Lager zueinander: von den christlichen Gewerkschaften bis zu den Anarchisten war jedes Thema gefragt und jede Position auch bei den Referentinnen und Referenten vertreten. Und wurden die Kontroversen heftig, so war es der viel beschworene "Geist von Linz", der letztendlich ein Zerbrechen des Gesamtunternehmens verhinderte. Und dieser "Geist von Linz" war und ist symbolisiert in der Position des Gründers, in Herbert Steiner. Heute stehen an der Spitze der Linzer Konferenzen Angehörige der jüngeren Generation. Gabriella Hauch als Präsidentin, Friedl Garscha in der unmittelbaren Nachfolge von Herbert Steiner als Kassier und Christine Schindler als die treibende und ordnende Kraft im Team. Sie haben die Übergangsgeneration, vertreten durch mich, abgelöst und führen nunmehr diesen Teil des Lebenswerkes von Herbert Steiner weiter. Sie tun dies auf ihre eigene Art, mit einem neuen, deutlichen Profil in der Öffnung hin zu neuen Fragestellungen und Methoden. Sie bewahren aber auch das Erbe. Und dieses Erbe besteht darin, eine Institution zu besitzen, die in der besonderen Konstellation des Kalten Krieges nur hier im neutralen Österreich entstehen konnte und die zur Realisierung und erfolgreichen Bewahrung eines großen wissenschaftlichen und politischen Kommunikators bedurfte. Einer Person, die zwischen Ost und West, Nord und Süd, Alt und Jung, Links und Konservativ, Wissenschaft und Laiengeschichte vermitteln konnte. Und einer Person, die Kristallisationspunkt und stetiger Ansprechpartner war. Dieses Erbe ist kostbar, aber gleichzeitig schwer zu hüten. Gebt Acht darauf, wir schulden dies jenem Mann, dem hier diese Gedenkstunde gewidmet ist. Und seid euch bewusst, was wir alle gemeinsam dieser Persönlichkeit zu verdanken haben. So denken wir heute in Trauer und Ehrfurcht an jenen Mann, der für uns alle ein Werk geschaffen hat, das uns die Tore zur Welt öffnete. Und wir sind stolz darauf, Teile dieses Gesamtwerks sein zu dürfen. Herbert Steiner, du wirst mir und allen jenen, für die ich hier sprechen kann, unvergessen bleiben.

 

 

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