logo
logo

Gertrude Zeisler: "Du wirst mich für einen rechten Jammerpepi halten"

Deportation Wien – Kielce, 19. Februar 1941

 

Gertrude (Traud) Zeisler geb. Lion, geb. 13. 10. 1888

 

Gertrude Zeisler, geboren in Reichenberg und aufgewachsen in Wien, arbeitete nach ihrer Heirat mit dem Schweizer Staatsangehörigen Max Zeisler in dessen Rechtsanwaltskanzlei, eine Tätigkeit, die sie auch nach dem Tod ihres Mannes weiter ausübte. 1938 lebte sie mit ihrer Schwester Ilka Pollatschek (1893–1950), deren Mann, dem Schriftsteller Stefan Pollatschek (1890–1942), und deren gemeinsamer Tochter Gerda, der späteren Schriftstellerin und Übersetzerin Gerda Hoffer (1921–2012), in der Straßergasse 13 in Wien-Döbling. Stefan Pollatschek, der 1933 der Vereinigung sozialistischer Schriftsteller beigetreten war, flüchtete im Juni 1938 nach Prag und konnte seine Familie nachholen. Im Jänner 1939 erreichten sie das britische Exil, Stefan Pollatschek starb dort am 17. 11. 1942.

 

Getrude Zeisler verlor nach dem "Anschluss" 1938 aufgrund ihrer jüdischen Abstammung ihre Arbeit. Nach der Flucht der Familie Pollatschek zog sie zu ihrem verwitweten Bruder, dem Kaufmann Arthur Lion (geb. 3. 3. 1887), dessen Frau Irma Lion (geb. 23. 5. 1893) am 30. 9. 1938 Selbstmord begangen hatte, in die Rotenturmstraße 17/18 im 1. Bezirk. Arthur Lion wurde während des Novemberpogroms 1938 verhaftet und am 14. 11. 1938 in das KZ Dachau eingeliefert. Am 16. 9. 1942 wurde er aus dem französischen Sammellager Drancy nach Auschwitz überstellt; seither fehlt jede Nachricht. Sein Sohn Erich (geb. 1924) überlebte im Exil.

 

Zum Zeitpunkt der Deportation wohnte Zeisler immer noch in der Rotenturmstraße. Aus Kielce schrieb sie mehrere Briefe und Postkarten, u. a. an ihre Cousine Olga Borges in Zürich, 26 davon wurden von ihrer Nichte Gerda Hoffer 2009 veröffentlicht. Zwei Briefe sind in Kopie im DÖW archiviert.

Buchcover 

 

 

 

Gerda Hoffer gab 2009 rund 26 Briefe und Postkarten, die ihre Tante Gertrude (Traud) Zeisler aus dem Ghetto in Kielce geschrieben hatte, heraus.

(DÖW-Bibliothek 16.169/42)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Wiedereinsetzen der Massendeportationen im Herbst 1941 hatte auf die GhettobewohnerInnen unmittelbare Auswirkungen, lichteten sich dadurch doch auch die Reihen jener, die Hilfe leisten konnten. Am 31. Oktober 1941 schrieb Zeisler an ihr "geliebtes Lentscherl" (d. i. Helene Mayer, die Schwester ihres Schwagers Stefan Pollatschek):

 

"Wieder ein Freitag und Posttag und seit Deinem Brief vom 10./IX. kein Lebenszeichen von Dir. Leider erhielt ich inzwischen die Nachricht, dass mein Cousin Viktor und seine Frau, die so überaus nett und hilfsbereit zu mir waren, nun auch mein Los teilen müssen. So wird ihre Güte belohnt! Überhaupt ist nun der Postempfang, der unsere einzige Freude und Abwechslung war, nun zu einer Quelle des Leids und zur Ursache vieler Tränen geworden. Die Paketsendungen aus dem Protektorate sind eingestellt, so dass bei uns allen noch zu den Sorgen um unsere Lieben die Befürchtungen betreffend unsere eigene Durchhaltemöglichkeit kommt. […] Es tut mir sehr leid, dass ich Dir nicht auch einmal etwas Angenehmes mitteilen kann und Du wirst mich für einen rechten Jammerpepi halten. Aber gar so schlimm ist es doch noch nicht mit mir. Trotz aller Sorgen verbringen wir im Kreise von lieben Bekannten auch manchmal ganz nette Stunden. Wir haben in einem Souterrain-Zimmer, das von 4 Emigranten bewohnt wird, für die Nachmittage eine Zuflucht gefunden und haben dort wenigstens Wärme und Plauschmöglichkeit. Wenn sich die Gespräche meistens ums Essen und um die Lebensmittelpreise oder um die Preise für Hemden oder dergl. drehen, so wird doch hie und da doch ein interessantes Thema behandelt, oder Frau Sax (Löhr) liest uns etwas vor, oder eine andere Dame, die ganz nett singt, singt uns ein Lied vor."

 

Im Brief vom 23. 7. 1942 an Olga Borges bat Zeisler um Hilfe für Wiener Deportierte:

 

"Das Ereignis dieser Woche war eine Karte meiner Wiener Freunde Sandor und Grete Guttmann aus dem 'Arbeitslager Ujazdow – Hansk, Kreis Cholm, Distrikt Lublin, Generalgouv.'
[']Von was träumt die Gans? vom Kukerutz', von was träumt die Traud? Euch wieder mit einer Bitte zu belästigen. […] Seid nicht böse über meine neuerliche Attacke auf Eure Hilfsbereitschaft und Güte und seid im Vorhinein dafür bedankt, was Ihr etwa für meine Freunde tun könnt."

 

Das letzte bekannte Lebenszeichen von Zeisler stammt vom 13. 8. 1942. Eine Woche später begann die Liquidierung des Ghettos, auch Gertrud Zeisler kam vermutlich im Vernichtungslager Treblinka oder auf dem Transport dorthin ums Leben. Ein Brief, den ihre Kusine Olga Borges ihr im Oktober 1942 schrieb, kam mit dem Vermerk "Empfänger verzogen 21/10 42" retour.

 

 

Literatur:
Traud Zeislers Briefe aus dem Ghetto in Kielce 1941-1942, hrsg. von Gerda Hoffer, transkribiert von Matthias Schulz, o. O. o. D. (2009), DÖW Bibliothek 16.169/42

 

 

>> Modliborzyce

<< zurück zur Übersicht Kielce

<< zurück zur Übersicht "Generalgouvernement"

 

Downloads

(136,2 KB)

Kielce, 31. 10. 1941
(562,6 KB)

Kielce, 23. 7. 1942
(343,6 KB)
Unterstützt von: