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Rosa Jochmann: Ich bin eine stolze Proletarierin

Rosa Jochmann, geb. 1901 in Wien, Fabriksarbeiterin. In den 1920er Jahren in der Gewerkschaftsbewegung tätig, Sekretärin im Verband der chemischen Arbeiter, Mitglied des Frauenkomitees der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, ab 1933 Bundesparteivorstandsmitglied, nach dem Parteiverbot Mitglied des Zentralkomitees der Revolutionären Sozialisten. 1934-1938 über ein Jahr in Haft. August 1939 im Zuge einer Verhaftungsaktion gegen "polizeibekannte" Revolutionäre SozialistInnen festgenommen, April 1940-1945 KZ Ravensbrück.


1945-1967 Abgeordnete zum Nationalrat, 1945-1959 Sekretärin des Bundesfrauenkomitees der SPÖ, 1959-1967 dessen Vorsitzende, 1959-1967 stellvertretende Bundesparteivorsitzende, Vorsitzende (ab 1992 Ehrenvorsitzende) des Bundes Sozialistischer Freiheitskämpfer. Vorstandsmitglied und Vizepräsidentin des DÖW.


Verstorben 1994.

 

 

Ich bin am 19. Juli 1901 in der Brigittenau geboren und in der Brigittakirche getauft worden. Meine Mutter war sehr fromm und sehr katholisch, mein Vater war Sozialdemokrat, und die Kinder haben mir schon immer nachgerufen: "Dein Vater ist ein roter Hund!" Meine Mutter habe ich einmal gefragt: "Wieso ist unser Vater ein roter Hund? Er ist weder ein Hund, noch ist er rot." Die Mutter hat gesagt: "Ja, der Vater, der will die reichen Leute nicht. Aber wenn die reichen Leute nicht wären, dann hätten die Armen nichts zu essen."

 

Das hat mir damals, wie ich noch ein Kind war, eingeleuchtet, aber später bin ich draufgekommen, dass es eigentlich umgekehrt richtiger ist. Wenn die armen Leute nicht wären, dann hätten die Reichen nichts zu essen. Wir sind aus einer sehr armen Familie, wir waren sechs Kinder, und später - meine Mutter ist schon mit 41 Jahren gestorben, und zwar im Jahr 1914 - haben mir die Leute erzählt, dass meine sehr katholische Mutter trotzdem einige Male bei den berüchtigten Frauen gewesen ist, weil einen Arzt konnte sie sich nicht leisten. Es stimmt einfach nicht mit dem "Wem Gott ein Häschen gibt, dem gibt er auch ein Gräschen". Das hat meine katholische Mutter auch gewusst, und so hat sie doch manches Mal zu einer solchen Frau gehen müssen. Zwei der sechs Kinder sind sehr bald gestorben. Aber wir hatten immer zwei Bettgeher. Und zwar war das so: Wir haben Zimmer und Küche gehabt, später dann ein ganz kleines Kabinett in der Grillgasse in Simmering. Wir, d. h. meine liebe Mutter, haben die Wohnung nicht gesucht nach dem Grundsatz Licht, Luft und Sonne, sondern: Wenn 's um eine Krone billiger war, dann war das die Wohnung für uns. Denn für eine Krone musste meine Mutter in den Waschküchen der reichen Leute einen Tag arbeiten. Und eine Krone hat zwei Laib Brot bedeutet. Ich erinnere mich, einmal ist meine Mutter, die auch aus sehr armen Verhältnissen gekommen ist, gesessen und hat an ihre eigene Mutter geschrieben: "Meine liebe Mutter! Mit trähnnenden [sic!] Augen ergreife ich die Feder ..." Ich bin daneben gestanden und habe meine Mutter angeschaut und habe gesagt: "Mutter, du weinst ja gar nicht, wieso schreibst du 'mit tränenden Augen'?" Hat die Mutter gemeint: "Das gehört sich, so schreibt man." Und das mit den Tränen hat sie orthographisch falsch geschrieben. Ich habe gesagt: "Aber Mutter, Tränen schreibt man nicht mit H und Doppel-N." Und da hat meine Mutter - das hat mich für mein ganzes Leben beeindruckt - den Kopf auf den Tisch gelegt und bitterlich zu weinen begonnen und hat gesagt: "Ich bin ja kaum zwei Jahre zur Schule gegangen, denn ich konnte nicht zur Schule gehen. Ich musste mit den Eltern schon als Kind mit vier, fünf Jahren um vier Uhr früh zur Brauerei gehen - da wurde der heiße Hopfen hinausgeworfen, der wurde getrocknet, das war unser Brennmaterial, wenn es im Winter kalt gewesen ist." Die Brauerei steht heute noch an dem Ort in Mähren, wo meine Mutter und mein Vater aufgewachsen sind. Sie kamen beide aus sehr, sehr armen Verhältnissen. Aber unsere Eltern haben uns etwas geschenkt fürs Leben trotz allem, so paradox es klingt: eine glückliche Kindheit. Es war für uns unvergesslich, wenn die Mutter, die in die Bedienung gegangen ist, einmal zu Hause blieb, wenn dann auch die Großmutter gekommen ist, sie ist zu Fuß von Brünn dem Geleise nach bis Wien gegangen, eine Bahnkarte konnte sie sich nicht kaufen, die waren auch arme Menschen. Am Rücken hat sie ein Tuch gehabt, in dem Tuch war ein riesiges selbst gebackenes Brot, am Arm einen Korb, der war voll mit Golatschen und Buchteln. Wenn die Großmutter aufgetaucht ist in ihren hanakischen Kleidern - das waren so kurze, steife Röcke, da haben wir immer gezählt, wie viele Röcke das sind, es waren sehr viele, und dann so ein romantisches Kopftuch -, hat sie mir ungeheuer imponiert. [...]

 

Ich habe mich sehr gefreut auf die Schule, und eigentlich war es für mich irgendwie ein Hort, denn wir waren Schlüsselkinder. Unsere Mutter ist in der Früh weggegangen, der Vater ist in die Arbeit gegangen [er war Eisengießer] und wir waren der Straße überlassen. Die Mutter hat uns einen Topf Malzkaffee ins Herdrohr gestellt und jedem ein Stück Brot, das war unser Essen für den ganzen Tag. Am Abend sind wir bei der Straßenbahn gestanden und haben immer gehofft, in der Straßenbahn wird die Mutter sein, in der wird sie sein, bis sie dann schließlich gekommen ist und uns eine Suppe gekocht hat. Es war eine sehr armselige Kindheit und trotzdem - muss ich sagen rückblickend, deshalb weil es gute, primitive Eltern waren, meine Mutter hat keine Ahnung von Beethoven und Goethe gehabt, auch mein Vater nicht -, trotzdem hatten sie so eine menschliche Wärme und sehr klug waren sie beide trotzdem, man muss ja nicht sehr gebildet sein, man kann trotzdem gescheit sein, meine Eltern waren es, die haben uns viele Regeln für das weitere Leben gegeben.

 

Ich bin gern in die Schule gegangen, und ich habe das Glück gehabt, dass ich lauter gute Lehrerinnen und Lehrer hatte ... Ich habe zwei böhmische Katecheten gehabt, den Herrn Novak und den Herrn Pospisil, und die zwei waren direkt verliebt in mich, nicht in mich, sondern: Nach der Messe am Sonntag haben sie mich in ihr Zimmer genommen, zuerst der Pater Novak und dann, wie der gestorben ist, der Pater Pospisil, und haben mit mir böhmische Lieder gesungen, weil sie zwei Böhm waren. Sie haben mich heiß und innig geliebt, ich war für sie ein Stück Heimat, weil ich eben Böhmisch konnte - wir haben zu Hause vor allem Tschechisch geredet. Mein Vater hat in Wirklichkeit nie Deutsch gelernt. Meine Mutter hat perfekt Deutsch gesprochen, so Deutsch gesprochen, wie ich es nie kann, und perfekt Tschechisch, aber mein Vater hat 's nie gelernt. Über meinen lieben Vater schreibe ich schon lange ein Buch, weil er war köstlich, wenn er versuchte, Deutsch zu sprechen, und nicht nur gescheit. Mein Vater hat mich seltsamerweise, obwohl mein Bruder um vier Jahre älter war, zu den Versammlungen mitgenommen. Da gibt 's noch heute dieses Wirtshaus Schwagerka in Simmering, da hatten die tschechischen Sozialdemokraten ihre Versammlungen. Und wenn sie mit der Rede dessen, der vorgetragen hat, einverstanden waren (das habe ich natürlich alles verstanden, freilich habe ich nicht genau gewusst, was es bedeutet), dann haben sie alle gerufen: "Je do tak tak do je!" Das heißt: So ist es, es ist so. Die sagen nicht: Stimmt oder Bravo usw., sondern die Böhm sagen Je do tak tak do je. Mein Vater hat nicht meinen älteren Bruder, der leider an der Volkskrankheit Lungenschwindsucht gestorben ist, sondern immer mich mitgenommen, schon auf den Zentralfriedhof, zu dem Obelisken, wenn des 13. März 1848 [Ausbruch der bürgerlich-demokratischen Revolution gegen die Habsburgerherrschaft in Wien] gedacht wurde - das feiert man heute nicht mehr. Mein Vater hat mich mitgenommen, und ich war hoch begeistert. Ich habe zwar nicht viel verstanden, aber irgendwie hat mich das außerordentlich gefreut.

 

Lehrerin konnte ich nicht werden, weil das damals sehr viel Geld gekostet hat, und außerdem ist ja meine Mutter gestorben und mein Vater auch bald; ich musste also für meine Schwestern und Brüder sorgen. 14 Tage vor meinem 14. Geburtstag stand ich beim Zuckerl-Schmidt auf der Geiselbergstraße, weil meine Freundinnen gesagt haben: "Geh zum Zuckerl-Schmidt, weil dort kannst" - es war ja schon der Krieg, das Fünfzehnerjahr -, "weil dort kannst Schokolade und alles Mögliche essen, Marzipan und Keks und so." Aber wie ich hingegangen bin - ich war noch nicht 14 Jahre und noch nicht so fett wie heute, sondern klein und mager -, habe ich den Portier, von dem ich glaubte, er sei der Generaldirektor in seiner Uniform, angesprochen: "Herr Generaldirektor, ich muss arbeiten gehen, ich möchte bitten, dass ich anfangen darf." Da hat er gesagt: "Du schaust ganz ordentlich aus, ja, du kannst anfangen." Aber ich bin nicht zu den Zuckerln gekommen, sondern in die Senfabteilung. Ich habe trotzdem Marzipan und Zuckerln und alles Mögliche gekriegt, weil das Tauschgeschäft zwischen den Abteilungen florierte damals, und ich hoffe, es floriert auch heute noch. Man konnte essen, was man wollte, nur mitnehmen durftest du nichts, und ich hätte es auch von meinem Vater aus nie dürfen. Mein Vater hat uns dazu erzogen: "Und wenn 's ein Reißnagel ist und er gehört nicht dir, dann lässt du ihn liegen." So sind wir erzogen worden von meinem Vater. Wenn du aus dem Betrieb hinausgegangen bist, stand die Frau Portier dort, die hat einen großen Sack gehabt, in dem waren rote und schwarze Kugeln, da musstest du hineingreifen, und ich habe immer damals schon die rote Kugel erwischt und nicht die schwarze. Denn die schwarze hat bedeutet: Du wurdest splitternackt ausgezogen und an allen möglichen und unmöglichen Stellen untersucht, ob du nicht irgendetwas mitgenommen hast. Aber - und das hat mich damals schon zum Denken gebracht - jede Woche mussten wir Musterpakete machen für den Herrn Betriebsleiter und für den Herrn Generaldirektor. Einmal habe ich unsere Abteilungsleiterin, Fräulein Mizzi, gefragt: "Fräulein Mizzi, wieso müssen wir die Pakete zum Herrn Generaldirektor und zum Herrn Betriebsleiter tragen?" Die Frage habe ich erst gewagt, wie ich schon wärmer dort geworden bin. "Ja, die müssen wissen, was im Betrieb erzeugt wird." Die haben also nach keiner roten und keiner schwarzen Kugel greifen müssen, denen ist es ins Haus zugestellt worden. Da bin ich schon rebellisch geworden, denn ich habe schon begriffen, dass das nicht stimmen kann. Dort bin ich aber entlassen worden aus dem Betrieb, weil es ein Saisonbetrieb ist, alle wurden entlassen. Und dann bin ich in eine Kabelfabrik gekommen. [...]

 

Ich war eine Hilfsarbeiterin. Ich sage aber jetzt nicht: nur eine Hilfsarbeiterin, weil ich bin ja eine - es gibt einen Stolz der Adeligen -, ich bin eine stolze Proletarierin, bin immer stolz darauf, dass ich Hilfsarbeiterin gewesen bin. Denn ich glaube nicht, dass es eine solche Solidarität und Verbundenheit, ich weiß nicht, ob es das heute noch gibt, unter den Höherstehenden gibt, wie sie es unter den Arbeitern gegeben hat. Ich war die Jüngste und habe Nachtschicht arbeiten müssen, damals schon, obwohl ich nicht einmal 15 Jahre alt war. Die Nachtschicht hat um sieben Uhr begonnen und war - mit einer halbstündigen Unterbrechung in der Nacht- um sechs Uhr früh aus. Jetzt ist oft der Meister gekommen und hat gesagt: "Roserl, du musst auch beim Tag hier bleiben, weil deine Ablöse nicht gekommen ist, die ist krank geworden." Das war die Frau Frank, die war wie eine Mutter zu mir. Sagt er: "Legst dich da in den Winkel hinein, schläfst eine Stunde und dann musst du halt deine Tagschicht machen." Ja, ich war nicht traurig, ich war glücklich, denn ich wusste, dass ich mehr verdienen würde. Aber wie die Tagschicht aus war, ist er wieder gekommen und hat gesagt: "Rosa, jetzt musst du aber wieder dableiben in der Nachtschicht ..." Der Betrieb ist unter kriegswirtschaftlichem Ermächtigungsgesetz gestanden. Wir haben Kabel gemacht, es war eine schwere Arbeit. Einmal bin ich in die Maschine gekommen, habe ja den Finger dadurch verkrüppelt. Also da bin ich 36 Stunden im Betrieb gewesen mit nicht einmal noch 15 Jahren. Der Draht war auf großen Trommeln, mit dem einen Fuß musste ich die Maschine in Betrieb setzen, mit den Händen musste ich das Kabel durch ein Messgerät führen, es durften nur 25 Meter auf jeder kleineren Rolle drauf sein usw. usf. Aber ich musste auch manches Mai zu der Maschine gehen, wo die einzelnen Stahldrähte zusammengedreht wurden, und da bin ich eingeschlafen und mit dem Finger in die Drähte gekommen.

 

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