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Rosa Jochmann: Wenn der Elferblock voll gewesen ist, dann ...

Rosa Jochmann, geb. 1901 in Wien, Fabriksarbeiterin. In den 1920er Jahren in der Gewerkschaftsbewegung tätig, Sekretärin im Verband der chemischen Arbeiter, Mitglied des Frauenkomitees der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, ab 1933 Bundesparteivorstandsmitglied, nach dem Parteiverbot Mitglied des Zentralkomitees der Revolutionären Sozialisten. 1934-1938 über ein Jahr in Haft. August 1939 im Zuge einer Verhaftungsaktion gegen "polizeibekannte" Revolutionäre Sozialisten festgenommen, 1940-1945 KZ Ravensbrück.

1945-1967 Abgeordnete zum Nationalrat, 1945-1959 Sekretärin des Bundesfrauenkomitees der SPÖ, 1959-1967 dessen Vorsitzende, 1959-1967 stellvertretende Bundesparteivorsitzende, Vorsitzende des Bundes Sozialistischer Freiheitskämpfer. Vorstandsmitglied und Vizepräsidentin des DÖW.

Verstorben 1994.

 

 

Wie ich nach Ravensbrück ins Lager gekommen bin, hat die Käthe Leichter zu mir gesagt: "Rosa, du musst Folgendes beachten: Du wirst Blockälteste vom politischen Block, das ist schon festgelegt. Du bist aber hier kein Fürsorgerat, du bist auch kein Betriebsrat, du bist ein verlängerter Arm der SS. Und du musst immer der SS recht geben. Und wenn sie vor dir jemanden halb totschlagen, dann musst du noch dem, der halb totgeschlagen ist, sagen: Wieso usw. usf. Und dann musst du aber versuchen zu verhindern, dass die Aufseherin eine Meldung macht." Als Blockälteste standest du beim Zählappell, der das Grausamste war, am Eck und kommandiertest alle: "Achtung!" Alle die Augen dorthin gerichtet, wo jetzt die Aufseherin oder der Kommandant kommt. Du musstest dann deinen Bericht erstatten. Es ist oft vorgekommen, dass die Aufseherin mit dem Stock eine herausgezogen hat, weil die den Winkel nicht richtig angenäht oder irgendetwas ganz Nebensächliches gehabt hat, und sie vor deinen Augen mit der Knute halb totgeschlagen hat. Da bist du dabeigestanden und musstest noch sagen: "Was ist dir denn eingefallen, wie kannst du ...?" Ich habe gar nicht gewusst, warum sie geschlagen hat, aber ich musste so tun, als ob ich auch empört wäre. Und dann ist die Aufseherin zur Seite gegangen. Ich musste sagen: "Frau Aufseherin, ich bin ganz verstört darüber, denn das ist ein so disziplinierter Mensch. Was der heute eingefallen ist, das weiß ich gar nicht. Bitte, Frau Aufseherin, machen Sie keine Meldung, ich gebe Ihnen mein Wort, ich lasse sie die Klo-Tour machen und Essenholen zwei Monate usw." So musstest du es machen, du musstest der SS immer recht geben, immer. Mit den Worten hat mir das die Käthe Leichter gesagt: "Rosa, und wenn der zu dir sagt, du sollst zu mir sagen 'Stinkige Jüdin', was wirst du tun?" - "Nein, das sage ich nicht, Käthe, da kannst du jetzt machen, was du willst, das sage ich nicht." Sagt sie: "Dann kannst du nicht Blockälteste werden, dann bist du unfähig dazu. Du musst es sagen." Ich bin ja nie in die Verlegenheit gekommen. Sie hat mir eigentlich, als ich am ersten Tag beim Spaziergang mit ihr über die Lagerstraße ging - wir sollten ja mit den Juden nicht reden, aber wir haben natürlich alle mit den Juden geredet, die Käthe war überhaupt der Liebling vom ganzen Lager und die Hertha Breuer auch -, die Instruktionen gegeben, hat mir alles gesagt. Du durftest der SS nicht widersprechen. Sie sind alle unintelligent, bösartig, grausam, aber helfen kannst du nur, indem du diplomatisch bist und indem du ihnen recht gibst. Und das ist wahr gewesen. [...]

 

Politische und nationale Rivalitäten unter den Häftlingen hat es überhaupt nicht gegeben. Es hat überhaupt keine Rolle gespielt, ob das jetzt eine Polin, eine Französin, eine Rumänin, eine Belgierin oder eine Tschechin oder wer immer gewesen ist. Uns hat tatsächlich eine absolute Freundschaft verbunden. Natürlich konnte das nur zwischen den politischen Häftlingen sein. Denn leider - das habe ich oft bedauert - hätten wir sehr oft auch den so genannten "Asozialen", den Straßenmädchen usw., in vielen Situationen helfen können, aber das konntest du nicht. Das hat mir auch die Käthe gesagt. Denn wenn die erwischt wurden, haben sie das gesagt. Und dann hat der ganze Block eine Strafe bekommen, hat nächtelang Strafe stehen müssen; das konntest du nicht wagen. Du konntest es nicht einmal wagen, dass du die auf den Block genommen hast, selbst wenn sie dich noch so erbarmt hat, und ihr Essen gegeben hast. Wenn sie nämlich durch irgendeinen Umstand von der Aufseherin gefragt worden ist, dann hat sie das preisgegeben. [...]

 

In Wirklichkeit war das ganze Lager in den Händen der Häftlinge. [...] Alles, was im Lager zu tun notwendig war, ob das jetzt die Kläranlage war oder was immer, die SS-Küche, die Häftlingsküche, das haben alles die Häftlinge gemacht. [...] Als Blockälteste hattest du mehr Freiheiten als die anderen. Du durftest z. B., nachdem die Sirene gegangen ist, nur als Blockälteste noch auf die Lagerstraße, sonst niemand. Als ich erst ganz kurz Blockälteste war, bin ich einmal zufälligerweise auf die Lagerstraße hinausgegangen und habe gesehen, wie zwei SS-Leute mit geschultertem Gewehr eine armselige Polin vom Bunker vor sich hergeführt haben, ein armseliges Menschenkind, heraus aus dem Lager. Und eine Viertelstunde später hat man dann den Schuss gehört, sie haben sie erschossen. Später habe ich das immer wieder erlebt, aber nicht eine, sondern dann waren es 20 oder 25 oder 30, die erschossen worden sind. [...]

 

Ich habe vieles getan, was Grund genug gewesen wäre, in den Bunker zu kommen, aber ich habe mich immer herausgedreht. Du weißt ja, dass es auch bei uns im Lager medizinische Versuche an der polnischen Intelligenz gegeben hat. In dem Block bin ich auch gewesen. Du konntest viel helfen, und zwar dadurch, dass die Häftlinge in Wirklichkeit in der Kleiderkammer, in der Brotkammer, in der Küche, im Revier und überall waren, und dadurch konntest du etwas organisieren. Die Revierarbeiterinnen haben Medikamente und Injektionen gebracht, die von der Küche Brot und Margarine. Die Revierarbeiterinnen haben einmal einen ganzen Kessel von der SS in den Block gebracht, einen Menagekessel, wie ihn die Soldaten gehabt haben; wir haben genau dieselben Kessel gehabt. Und der hat so gerochen. Da war lauter Schweinefleisch für die SS drin, das konnten wir gar nicht am Block behalten. Wir haben 's ins Revier hinübergeschickt, denn bei uns war das viel zu gefährlich. Dadurch hatten wir eigentlich das ganze Lager in der Hand. Und zwar hatten wir auch die Möglichkeit, durch die Lagerälteste Menschen das Leben zu retten. [...]

 

Unser Block war der Musterblock. Er musste immer auf Glanz hergerichtet sein, und zwar hatte jeder Häftling einen Teller, eine Schüssel, ein Messer, eine Gabel, eine Zahnbürste, ein Zahnglas und ein Geschirrtuch, das im Schrank aufgehängt sein musste. Wir haben das alles nicht benützt. Wir haben für alles einen Ersatz gehabt, weil, wenn die Aufseherin kontrollieren gekommen ist, musste das alles tadellos sein. Auf dem Zahnbürstel z. B. durfte gar nichts sein. Einmal haben wir eine neue Aufseherin bekommen, ein ganz junges Mädchen, die hat die Schränke kontrolliert. Ich habe gesagt: "Frau Aufseherin, in einer halben Stunde das Bett machen und alles, das geht nicht." Bei der habe ich mir das erlauben können. Das hast du gespürt, ob du dir das erlauben kannst oder nicht, du wurdest ja ein Menschenkenner. Sagt sie: "Mir scheint, Sie sind böse darüber, dass ich die Schränke mache." Sage ich: "Ja, Sie sind die erste Aufseherin, die da jeden Tag die Schränke anschaut, die anderen haben das ja nicht getan. Aber der Frau Oberaufseherin sage ich jedes Mal, dass die Aufseherin jeden Tag die Schränke anschaut." Die hat 's nie mehr angeschaut. Und wenn die Oberaufseherin gekommen ist - und da war die auch dabei -, habe ich gesagt: "Frau Oberaufseherin, ich weiß nicht, wie ich mit meiner Arbeit fertig werden soll, die Frau Blockaufseherin schaut jeden Tag alle Schränke durch, alle Betten durch. Und ich weiß nicht, wie ich da die Menschen zur richtigen Zeit zum Zählappell bringen soll." Da habe ich vor der Oberaufseherin über die Aufseherin geschimpft, aber absichtlich, weil das war in Wirklichkeit Honig in den Ohren der Oberaufseherin, das wusste ich. Weil ich meine Unzufriedenheit über die Aufseherin zum Ausdruck gebracht habe, war die Aufseherin gut angeschrieben.

 

Ein Problem im Lager war, dass auch unter den Häftlingen gestohlen wurde. Auf unserem Block wurde nicht gestohlen. Aber einmal ist ein junges Mädchen gekommen, das tut mir heute noch im Herzen weh, ein Bauernmädchen. Und die war schwanger. Das wussten wir alle zusammen nicht. Das haben wir erst später erfahren. Die ist in der Nacht aufgestanden und hat ein Brot gestohlen. Wir haben ja alle das Brot im Schrank liegen lassen. Das hat eine andere gesehen. Und die ist in der Früh zur Blockaufseherin gegangen und hat gesagt, dass die ein Brot gestohlen hat. Das hat es sonst bei uns nicht gegeben. Natürlich ist die in den Bunker gekommen. Und die hat 's auch noch zugegeben. Sie wurde ins Dienstzimmer gerufen, ich konnte ihr gar nicht sagen: "Streite das ab und sag, das ist gar nicht wahr." Sie hat 25 Stockschläge bekommen, ist nackt in die Zelle geworfen worden und ist gestorben. [...]

 

Durch Denunziation bin ich in den Bunker gekommen. Weil die, deren Namen ich nicht aussprechen will, von uns allen vieles gesagt hat, was natürlich gestimmt hat, dass wir stehlen und organisieren. Die vom Kohlenkeller haben uns jeden Tag am Abend einen Kübel voll mit Briketts hingestellt. Und das haben wir dann in der Nacht geholt. Das hat die alles gesagt. Als ich vom Bunker zurückgekommen bin, bin ich natürlich nicht mehr Blockälteste geworden und wurde in den Industriehof versetzt. Dadurch habe ich viele Sachen, die die anderen erlebt haben, nicht mitgemacht. Denn das war getrennt. [...]

 

In gewisser Beziehung war es eine Verbesserung, wenn ich auch die ganze Zeit von 1943 bis zum Ende Nachtschicht machen musste, aber insofern eine Verbesserung, als ich keine Verantwortung hatte. Ich musste nicht immer zittern, dass irgendetwas ist, und musste nicht immer irgendetwas glätten usw. Ich war ein Häftling unter Häftlingen. Ich hatte auch keine schwere Arbeit, denn meine Arbeit bestand darin, dass ich Gummi für die Anoraks geschnitten habe. Bei Tag konnten wir schlafen, meine Leidensgefährtinnen waren rücksichtsvoll. [...]

 

Die Käthe Leichter ist schon 1942 vom Lager weggekommen. Bei dem ersten Transport ist eine Ärztekommission gekommen. Die Jüdinnen waren alle im Elferblock. [...] Sie mussten nackt von ihrem Block - es waren ungefähr 500 Meter - bis zur Ärztekommission gehen. Die haben nichts untersucht, gar nichts, die sind an ihnen vorbei. Und wie die Käthe Leichter - das hat sie mir dann erzählt - vorbeigekommen ist, hat er zu ihr gesagt: "Frau Doktor, was für ein Doktorat haben Sie denn?" Da war sie auf einmal eine Frau Doktor. Hat sie gesagt: "Philosophie und Staatswissenschaft." - "Das werden Sie dort sehr gut brauchen können." Ich weiß es nicht, und ich werde es nie wissen, ob die Käthe wirklich nicht an das Ende geglaubt hat. Denn die Helene und ich sind an dem Abend, bevor sie transportiert wurden, in den Elferblock geschlichen. Das kann man sich nicht vorstellen: 90 % waren überzeugt, dass sie sterben werden. Aber die Käthe hat gesagt: "Schau sie dir an, die wären doch wahnsinnig, wir sind doch stark, die werden uns ins Bergwerk stecken." Ich werde nie wissen, was die Käthe in Wirklichkeit gemeint hat. Der ganze Block ist gegangen. Nicht nur der Block, es sind auch Bibelforscher gegangen. Die hätten ja jeden Tag nach Hause gehen können. Die Bibelforscher hatten ein Privileg. Die brauchten nur beispielsweise am Montag unterschreiben, dass sie dem Jehova abschwören, und am Dienstag in der Früh wären sie nach Hause gegangen. Von Tausenden haben es fünf getan. Tausende sind ins Gas gegangen, vernichtet worden. [...]

 

Dann ist der Tag gekommen, wo die Helene und ich am jüdischen Block gewesen sind. Wir haben dieses furchtbare Abschiednehmen erlebt, haben ihnen alles Mögliche mitgegeben, was wir halt gehabt haben. Ich glaube, das habe ich dir gesagt, dass die Käthe, wie wir in der Früh, an einem klirrenden Morgen - das Firmament war voller Sterne - über die Lagerstraße gegangen sind, man hat die Schritte gehört -, zum ersten Mal gesagt hat: "Rosa, wenn es doch so sein sollte, dass ich nicht mehr nach Hause komme, dann grüße meine drei Buben." Sie hat immer auch den Otto [Otto Leichter, ihren Gatten] miteinbezogen, sie hatte ja nur zwei Söhne. "Und der Partei sage, würde ich noch einmal leben, dann würde ich genauso leben, wie ich gelebt habe. Ich bereue es nicht. Und ich würde genauso dem Sozialismus dienen." Dann sind wir gestanden und haben gesehen, wie die Frauen auf den offenen Lastwagen aufgeladen worden sind, und eine Woche später, vielleicht waren es zehn Tage, sind die Lastwägen zurückgekommen mit den Kleidern, mit den Stöcken, mit den Augengläsern, mit allem, was wir ihnen mitgegeben haben. Wir hatten uns ausgemacht, dass sie uns eine Nachricht schickt, wenn sie kann. Das habe ich nicht für möglich gehalten. Aber unter der Häftlingsnummer einer jungen, bildschönen, intelligenten Jüdin, zu der wir Bugi gesagt haben, wollte sie uns eine Nachricht schicken. Ich durfte nicht die Lastwagen entladen, aber ich habe den Mädchen gesagt: "Wenn ihr zu der Nummer kommt" - die weiß ich heute auch noch -, "dann schauts vielleicht." Und da war was. Da war ein winziges Stück Papier, und auf dem ist gestanden: "Fahren durch Bernau. Sind in Dessau. Überall gute Aufnahme." Dann war, als ob sie jemand gestoßen hätte oder sie weiter sind ...

 

Mein "Lagerkind", das jetzt gestorben ist, eine Kinderärztin aus Wroclav, ist zehn Tage später gekommen: "Bitte, Mama" - die haben zu uns Mama gesagt, die Mädeln, die haben jemand gesucht, der ihnen die Mutter ersetzt -, "bitte, Mama, reg dich nicht auf, wir haben für alle Todesnachrichten geschickt, die mit dem Transport gegangen sind. Die sind an 'Kreislaufstörung' und an 'Herzversagen' und an 'Lungenentzündung' gestorben." Und da haben wir gewusst, dass die tot sind. Ihr könnt es euch nicht vorstellen - wie das bei uns funktioniert hat, weiß ich nicht -, aber in der nächsten halben Stunde hat es das ganze Lager gewusst. Dann ist etwas eingetreten, mit dem ich heute noch herumraufe, weil ich lebe ja in all dem. Etwas, das nicht fassbar ist und das man auch nicht enträtseln kann. Wir haben uns nichts ausgemacht, aber nicht nur wir, auch die Straßenmädchen und alle, wir haben nichts geredet. Wir haben ja sonst auch am Sonntagvormittag eine Liederstunde veranstaltet, Freiheitslieder und so, da haben wir immer den Block umstellt, damit die uns melden, wenn die SS kommt oder irgendetwas. Aber von dem Moment an war eine solche tödliche Stille im Lager, nicht ausgemacht. Ich habe nicht mehr schreien brauchen: "Zum Zählappell, hinaus! Der Lagerkommandant kommt!" usw. - ich war da noch Blockälteste -, sondern es war so, als wären alle gelähmt. Das hat sich dann immer wiederholt. Wenn der Elferblock voll gewesen ist, dann ... Und später sind sie nicht mehr nach Ravensbrück gebracht worden, sondern gleich nach Theresienstadt und nach Auschwitz, blühende junge Menschen und Greisinnen. Man kann es nicht fassen.

 

Kurz bevor die Käthe Leichter weggekommen ist, da war das Lager schon überfüllt, da mussten sie ein eigenes Zelt, wie ein Zirkuszelt, aufstellen, weil sie keine Baracke mehr gehabt haben. Und da sind die Transporte gekommen, die haben kein Klo gehabt, kein Wasser und gar nichts. Als die Käthe und ich einmal zeitig morgens über die Lagerstraße gegangen sind, da hat sie gesagt: "Rosa, wir müssten einen Film haben, wir müssten das drehen können, das werden die Leute nicht glauben und nicht fassen können, dass es so etwas überhaupt gibt. Und du wirst es sehen, sie werden es uns nicht glauben, wenn es einmal aus sein wird." Und damals waren noch gar nicht die Vergasungen; allerdings die Erschießungen der polnischen Intelligenz, das Auspeitschen, den Strafvollzug, was sich im Bunker abgespielt hat usw., das hat die Käthe alles schon erlebt.

 

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