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Von Wien ins Nirgendwo: Die Nisko-Deportationen 1939

Die neue Online-Dokumentenedition des DÖW

Wolfgang Schellenbacher

Im Oktober 2022 präsentierte das DÖW eine Online-Dokumentenedition zu den Nisko-Transporten aus Wien im Oktober 1939: https://nisko-transports.ehri-project.eu.

Nisko-Edition - Screenshot


Die Edition führt Dokumente aus mehreren Archiven zur Deportation und zum Schicksal der fast 1600 nach Nisko verschleppten Wiener Juden zusammen. Sie wurde in Kooperation mit der European Holocaust Research Infrastructure (EHRI) auf der durch die Forschungsinfrastruktur errichteten Plattform für Online-Editionen erstellt. Dies ermöglicht eine Verknüpfung zu den Sammlungsbeschreibungen im EHRI Portal sowie eine Leseoption aller Dokumente über Landkarten. Neben einer Volltextsuche zu allen Dokumenten enthält die Edition kurze Einleitungstexte zur Nisko-Aktion. Über die Indices kann die Edition auch nach dem Interesse der LeserInnen durchsucht und automatisch neu angeordnet werden.

Alle Dokumente wurden transkribiert, in TEI bearbeitet und verlinkt. Zu Personen, Organisationen, Orten und Schlagwörtern in den Dokumenten finden LeserInnen dadurch optional weiterführende Informationen. Die Online-Edition beinhaltet Unterlagen zur Vorgeschichte der Transporte ebenso wie zum weiteren Schicksal der Deportierten. Während das Hauptaugenmerk in der Forschung zur Nisko-Aktion lange auf der Geschichte der Transporte als Probelauf für die späteren Massendeportationen der jüdischen Bevölkerung lag, richtet die neue Dokumentenedition ihre Aufmerksamkeit auf die Deportierten und ihre Erfahrungen: Als Teil der Edition wurde erstmals eine Liste aller Teilnehmer der Nisko-Transporte erstellt und veröffentlicht. Die Namen der im Holocaust umgekommenen Personen sind mit der Opferdatenbank des DÖW verlinkt. Zusätzlich wurden zu mehr als 150 Deportierten, deren Namen in den Dokumenten der Edition aufscheinen, Kurzbiografien erstellt.

Auch bei der Auswahl der Dokumente der Edition stehen seltene Ego-Dokumente der Deportierten im Mittelpunkt: Als wichtigste Quelle diente die Korrespondenz der Deportierten mit der Jüdischen Gemeinde in Wien, die sich heute im Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) Wien, Bestand Jerusalem wiederfindet. Viele dieser Briefe geben Einblick in das Schicksal der aus Wien deportierten Männer, ihre verzweifelte Lage und ihren „Alltag“ zwischen Herbst 1939 und März 1940: Ein Großteil von ihnen wurde nach der Ankunft vertrieben und versuchte über die deutsch-sowjetische Demarkationslinie zu flüchten. Ein weiterer Teil blieb im Gebiet zwischen Nisko und der Demarkationslinie zurück und war auf jüdische Hilfsorganisationen angewiesen. Auch Siegmund Flieger wandte sich am 13. Dezember 1939 im Namen von 35 Männern, die im Oktober 1939 von Wien nach Nisko deportiert worden waren, in einem Hilfegesuch aus Bełżec an die IKG Wien:

Unsere Leute sind krank, durch Hunger und Strapazen vollständig entkräftet, wir hungern und frieren ohne warme Wäsche und leben unter einer Bevölkerung, die uns unfreundlich gegenübersteht und von der wir nicht nur keine Unterstützung zu erwarten haben, sondern die uns überdies fortwährend Hindernisse in den Weg legt. Wir können weder vor noch zurück, da alle Grenzen für uns hermetisch abgeschlossen sind.

 

Siegmund Flieger wurde 1902 als Sohn von Jacob Herz Flieger und Agathe Flieger geb. Bellak in Wien geboren. Er arbeitete als Kellner und wohnte in der Schrottgießergasse 3 in Wien-Leopoldstadt. Im Mai 1938 füllte er bei der IKG Wien einen Auswanderungsfragebogen aus, in der Hoffnung, seine Auswanderung Richtung Nord- oder Südamerika organisieren zu können.Am 20. Oktober 1939 wurde er von Wien nach Nisko deportiert. Seine 1902 in Bruckmühl geborene Frau Ernestine wurde nach der Deportation ihres Mannes nach Nisko für einen geplanten dritten Nisko-Transport im Sammellager in der Gänsbachergasse 3 interniert. Nachdem Siegmund Flieger wie die meisten Deportierten aus der Gegend um Nisko vertrieben worden war, gelangte er mit einer Gruppe von Wiener Deportierten nach Bełżec, von wo aus er mit der IKG Wien in Kontakt trat. Im April 1940 kehrte er – wie insgesamt fast 200 Personen der Wiener Nisko-Deportierten – nach Wien zurück. Am 1. Mai 1943 wurde er mit seiner Frau und seiner Tochter von Wien nach Theresienstadt deportiert und von dort im September 1944 nach Auschwitz überstellt. Über Sachsenhausen gelangte er am 26. Februar 1945 nach Mauthausen, wo er die Befreiung erlebte. Seine Frau und seine Tochter kamen im Holocaust um. Siegmund Flieger heiratete erneut und wanderte 1950 mit seiner Familie nach Brasilien aus.1


Briefe aus dem Gebiet um Nisko an die IKG Wien verdeutlichen auch die Auseinandersetzungen zwischen den Deportierten und der IKG Wien. Wie die Historikerin Andrea Löw herausstrich, deutete sich in diesen Briefen bereits der spätere Konflikt zwischen den jüdischen RepräsentantInnen und der „normalen“ jüdischen Bevölkerung in den Ghettos an.2 Dokumente aus dem Bestand der IKG Wien geben auch Auskunft zum Sammellager in der Gänsbachergasse und zum nicht abgegangenen dritten Nisko-Transport, dessen Geschichte Dieter Hecht in einem einleitenden Text in der Edition beschreibt. Eine Schilderung der ZimmerkommandantInnen des Sammellagers vom 22. November 1939 zeigt die verzweifelte Situation dieser Jüdinnen und Juden und verdeutlicht auch Konflikte mit dem Personal der IKG:

„[...] haben wir festgestellt, dass durch die Beistellung von hausfremden Ordnern die Leute das Gefühl haben, Sträflinge zu sein. Es ist daher nicht zu vermeiden, dass die Leute murren und des Glaubens sind, Gefangene der Kultusgemeinde zu sein.


Eine der unterzeichnenden Zimmerkommandantinnen war Rafaela (Rachela) Huschak geb. Flach. Sie wurde 1895 in Fryštát geboren und heiratete 1920 in Wien den um ein Jahr jüngeren Chauffeur Leo Huschak. 1921 wurde die Tochter Margarete geboren, 1927 folgte die Geburt des Sohnes Hans. Zum Zeitpunkt des „Anschlusses“ Österreichs an NS-Deutschland lebte die Familie in einer Zimmer-Küche-Wohnung in der städtischen Wohnhausanlage im Pernestorfer Hof in der Troststraße 68–70 in Wien-Favoriten. Als das Wiener Wohnungsamt Ende Juni 1938 rund 2000 Kündigungsverfahren gegen jüdische MieterInnen von Gemeindewohnungen anstrengte, wurde auch Leo Huschak die Wohnung per 31. Juli 1938 gekündigt. Zwar erreichte die Familie eine Verlängerung der Räumungsfrist, musste aber Ende Oktober 1938 endgültig die Wohnung verlassen und in die Barackensiedlung in der Hasenleiten (Baracke 33) übersiedeln. In den folgenden Monaten suchte die Familie vergeblich Ausreisemöglichkeiten nach Kolumbien, Palästina oder Shanghai. Am 20. Oktober 1939 wurde Rafaela Huschaks Mann nach Nisko deportiert, wo sich seine Spur verliert. Ab Anfang November 1939 war sie mit ihren Kindern im Sammellager in der Gänsbachergasse untergebracht und sollte mit dem dritten Transport von Wien nach Nisko deportiert werden. Der Transport wurde gestoppt, endgültig durften die Internierten das Sammellager jedoch erst am 8. Februar 1940 verlassen.3 Rafaela Huschak lebte mit ihren Kindern zuletzt in der Servitengasse 5/16 in Wien-Alsergrund. Am 15. Februar 1941 wurden sie nach Opole deportiert. Rafaela, Margarete und Hans Huschak kamen im Holocaust um.

Die Korrespondenz aus dem Archiv der IKG Wien wurde um Beschreibungen der wenigen Überlebenden aus Opferfürsorgeakten ergänzt, die auf ihre Deportation, Vertreibung und Inhaftierung in sowjetischen Gulags eingehen. Die Dokumente verdeutlichen auch die geringe Rolle, die der Ort Nisko für die Deportierten und Vertriebenen der Wiener Nisko-Transporte spielte. Wie auch die automatisiert erstellten Karten in der Online-Edition zeigen, spielte der große Raum zwischen Nisko und der sowjetisch-deutschen Demarkationslinie, der als „Nirgendwo“ oder „Niemandsland“ wahrgenommen wurde, eine bedeutendere Rolle für die Deportierten als das Lager in Zarzecze bei Nisko, in dem nur ein kleiner Teil von ihnen unterkam.

Zusätzlich wurden Ego-Dokumente aus dem DÖW, den Arolsen Archives, dem United States Holocaust Memorial Museum bzw. dem Slowakischen Nationalarchiv in die Edition aufgenommen. Diese zeigen unter anderem bislang kaum betrachtete Versuche einzelner Deportierter, eine mögliche Ausreise in die Slowakei zu organisieren.4 Ein Brief des 1912 in Wien geborenen Damenschneiders Leo Quittner an seinen Cousin in der Slowakei zeigt eine dieser vergeblichen Bemühungen: „Ich könnte von hier in die Slovakei kommen, wenn Du mir die Einreise verschaffen möchtest. Ich habe viele Kollegen, die von ihren Verwandten in die Slovakei angefordert werden. Du brauchst für mich nicht sorgen, ich bringe mich dann schon durch [...].“ Quittner kehrte 1940 aus der Gegend um Nisko nach Wien zurück. Am 26. Februar 1941 wurde er von Wien nach Opole deportiert. Leo Quittner kam im Holocaust um.

Mehrere Dokumente der neuen Online-Edition verweisen auf ein bislang gänzlich unerforschtes Kapitel: die Deportation österreichischer Juden aus dem Internierungslager Eibenschütz (Ivančice) im Protektorat Böhmen und Mähren nach Nisko. Deutlich wird dies durch eine Korrespondenz zum Schicksal von Josef Schloß. Am 13. Dezember 1939 stellte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) eine Anfrage an das Deutsche Rote Kreuz zu seinem Aufenthaltsort. Das Deutsche Rote Kreuz leitete die Anfrage an die Gestapo weiter.

Josef Schloß wurde 1916 in Wien als Sohn der TextilunternehmerInnen Victor und Malvine Schloß geboren. Er lebte gemeinsam mit seinen Eltern in der Weißgerber Lände 8 in Wien-Landstraße. Ende November 1935 zog er nach Brünn und arbeitete dort für das Textilunternehmen Aron & Jakob Löw-Beer. Er erhielt eine Aufenthaltsgenehmigung für die Tschechoslowakei bis Ende 1938. Bis 1939 wohnte er in der Altbrünnergasse 7. Am 8. Juli 1939 wurde er als ausländischer Flüchtling in das Lager Eibenschütz (Ivančice) eingewiesen. Am 13. April 1940 beantwortete die Gestapo in Berlin die Anfrage des Roten Kreuzes:

Der Jude Joseph Schloß war vom 8. 7. 39 bis 26. 10. 39 in dem aus Mitteln der Kul-
tusgemeinde Brünn erhaltenen Arbeitslager für Juden in Eibenschitz bei Brünn untergebracht. Am 26. 10. 39 erfolgte seine Abschiebung [handschriftlich: Ausweisung] nach Nisko im Generalgouvernement.5


Josef Schloß’ weiteres Schicksal ist unbekannt. Seine Eltern Viktor und Malvine Schloß sowie seine Schwester Olga Pisinger überlebten den Holocaust im Exil in Großbritannien.
NS-Dokumente zur Organisation der Nisko-Aktion und zur Abfertigung der Transporte wurden aus dem DÖW und dem Landesgericht Wien in die Online-Dokumentenedition aufgenommen.

Diese Dokumente zeigen etwa die Suche Adolf Eichmanns nach einem geeigneten Deportationsziel oder beleuchten wie jüdische Funktionäre aus Wien und Prag (Berthold Storfer, Julius Boschan, Richard Friedmann, Benjamin Murmelstein, Jacob Edelstein, Maurycy Moses Grün) auf Anordnung Eichmanns am ersten Nisko-Transport teilnehmen mussten.

Die Online-Dokumentenedition Von Wien ins Nirgendwo: Die Nisko-Deportationen 1939  versteht sich nicht als abgeschlossenes Projekt. Die Edition wird kontinuierlich um neue Dokumente erweitert. Die innovative digitale Datendarstellung der Online-Dokumentenedition soll WissenschafterInnen bei einer weiteren Erforschung der Nisko-Transporte aus Wien und des Schicksals dieser deportierten Wiener Juden unterstützen und Ausgangspunkt für neue Forschungen und neue Forschungsfragen sein.


Dieser Text erschien (mit ausführlicheren Quellenangaben) in den Mitteilungen 252 (Dezember 2022).

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1 Brasilianisches Nationalarchiv, Einwanderungskarten, 1900–1965, Siegmund Flieger.
2 Andrea Löw, „Die Lage ist unter diesen Umständen sehr unsicher“. Briefe deportierter Wiener Juden vom Herbst 1939 bis zum Frühjahr 1940 an die Israelitische Kultusgemeinde Wien, in: Christine Schindler (Hrsg., im Auftrag des DÖW), Nisko 1939. Die Schicksale der Juden aus Wien, Wien 2020 (= Jahrbuch 2020), S. 207–227, S. 227.
3 Jonny Moser, Nisko. Die ersten Judendeportationen, Wien 2012, S. 139.
4 Eine Beschreibung der Auswirkungen der Ausreise tschechischer Juden auf die Versuche der Wiener Nisko-Deportierten siehe in: Moser, Nisko, S. 141 f.
5 Auswanderungsfragebogen Josef Schloß, Archiv der IKG Wien, A/W 2589,8.

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