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Rachbauer, Markus / Schwanninger, Florian: Krieg und Psychiatrie

Buchrezension von Wolfgang Neugebauer

Der vorliegende Sammelband resultiert aus einem 2018 im Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim abgehaltenen Forschungskolloquium, dessen Referate von Florian Schwanninger und Marcus Rachbauer, Leiter bzw. Mitarbeiter der Gedenkstätte Hartheim, herausgegeben wurden. Der 100. Jahrestag des Ersten Weltkrieges hatte den Anstoß gegeben, die NS-Massenmorde an Psychiatriepatient*innen mit dem weniger bekannten massenhaften Hungersterben 1917/18 zu vergleichen, d. h. die Fakten aufzuzeigen, Unterschiede, Parallelen und Kontinuitäten herauszuarbeiten. Die vier veröffentlichten Beiträge zu den wichtigen psychiatrischen Anstalten – Hall in Tirol, Niedernhart, Mauer-Öhling und Wien-Steinhof — verfasst von durchwegs kompetenten Fachleuten, bieten insgesamt einen guten Überblick über das Geschehen und geben zugleich – auf der Grundlage von präzisen Quellen- und Literaturangaben — einen Einblick in den Stand der jüngsten Forschung. Bedauerlicherweise fehlt ein Beitrag über die große Anstalt Graz-Feldhof.

Während die in beispiellosen Massenmorden gipfelnde NS-Euthanasie schon seit längerem Gegenstand intensiver Forschung ist, wurde das Hungersterben der Psychiatriepatient*innen im Ersten Weltkrieg von der Geschichtswissenschaft weniger beachtet. Umso wichtiger ist der Vergleich dieser beiden Komplexe bzw. die Herausarbeitung sowohl der qualitativen Unterschiede als auch von Gemeinsamkeiten, Parallelen und Kontinuitäten. Die Verfasser teilen die Einschätzung, dass die NS-Euthanasie ein vorsätzlicher, vom NS-Regime organisierter Massenmord aus „rassenhygienischen“ Gründen bzw. aus kriegswirtschaftlichen Erwägungen war, während das Hungersterben im Ersten Weltkrieg 1917/18 aus der katastrophalen Ernährungssituation der Gesamtbevölkerung resultierte, wobei die auf der untersten Stufe der Ernährungspyramide stehenden Psychiatriepatient*innen die Hauptleidtragenden waren.

Der Beitrag zur Tiroler Anstalt Hall basiert zum einen auf langjährigen Forschungen der beiden Verfasser Dirk Dunkel und Oliver Seifert, Statistiker bzw. Historiker im LKH Hall, zum anderen auf einem vom Land Tirol beauftragten und mit einer mehrbändigen Publikation erfolgreich abgeschlossenen Projekt zu dem 2011 „entdeckten“ Anstaltsfriedhof (mit 220 Gräbern aus der NS-Zeit), an dem Dunkel und Seifert maßgeblich mitwirkten. Die Verfasser kommen in ihrem mit zahlreichen Statistiken und Grafiken ausgestatteten Beitrag zu dem Ergebnis, dass das Ausmaß des Hungersterbens im Ersten Weltkrieg jenem in der NS-Zeit nicht nachstand, stellen aber die „Singularität“ der NS-Verbrechen an Psychiatriepatient*innen im Rahmen der „Aktion T4“ und auch der anstaltsinternen Morde nicht in Frage. Die Sterblichkeit (bezogen auf die jeweilige Patientenzahl) betrug 1918 21,4 % und 1945 21 %, wozu neben der Unterernährung auch andere Faktoren wie Personalnot, Überbelegungen, Mangel an Medikamenten und Heizmaterial beitrugen. Dunkel/Seifert arbeiten heraus, dass die Anstaltsleitung unter dem langjährigen Direktor Ernst Klebelsberg die allgemeinen NS-Maßnahmen zwar mittrug, aber — im Unterschied zu Wien-Steinhof und anderen Anstalten — darüber hinaus von sich aus keine „dezentralen Anstaltsmorde“ betrieb. Insofern muss Hall als ein Sonderfall gesehen werden.

Markus Rachbauer gibt in seinem Beitrag über die oberösterreichische „Landes-Irrenanstalt Niedernhart“ (mit einer Zweiganstalt in Schloss Gschwendt) an, dass die Sterblichkeit in Niedernhart bei einer Kapazität von ca. 950 Betten von unter 10 % vor 1914 auf mehr als 24 % 1917 anstieg und erst 1922 wieder unter die 10 %-Marke sank. Insgesamt starben zwischen 1914 und 1918 über 1000 Patient*innen. Hauptgrund des Massensterbens war auch hier die unzureichende Versorgung mit Lebensmitteln und Heizmaterial, die zu schweren Erkrankungen und Seuchen führten. In der NS-Zeit stieg die Sterblichkeit von 4,5 % 1938 auf 24,3 1943. Der Autor arbeitet heraus, dass die Besonderheit Niedernharts darin lag, dass der Leiter Rudolf Lonauer, ein fanatischer, von der Rassehygiene durchdrungener Nationalsozialist, seit 1940 zugleich Leiter von Hartheim, einer von sechs Gasmordanstalten der Aktion T4, war, wodurch Niedernhart zur Zwischenanstalt bzw. „Durchgangsstation“ für T4-Transporte fungierte. 600 Personen wurden in 20 Transporten nach Hartheim überstellt. Darüber hinaus wurde von Lonauer und seinen Helfern mittels tödlicher Medikamente und der „Hungerkost“ systematisch gemordet. Insgesamt starben in Niedernhart vom Mai 1940 bis Kriegsende 1341 Personen. Nach Schätzungen der Linzer Historikerin Brigitte Kepplinger betrug die Zahl der Opfer der dezentralen Anstaltsmordaktion in Niederhart selbst mehr als 700. In seinem Resümee stellt der Autor fest, dass aufgrund der Quellenlage hinsichtlich beider Weltkriege viele Fragen offenbleiben, die weitere Forschungen, insbesondere in Krankenakten, notwendig machen.

Clemens Ableidinger und Philip Mettauer vom Institut für jüdische Geschichte Österreichs in St. Pölten behandeln die Geschichte der 1902 gegründeten, damals als „modern“ angesehenen Landes-Heil- und Pfleganstalt Mauer-Öhling. Im Ersten Weltkrieg wurden dort neben k. u. k Soldaten auch Kriegsflüchtlinge sowie Kriegsgefangene medizinisch behandelt, die auf dem Papier mit den zivilen Patient*innen gleichgestellt waren. Die Todesrate – wie in anderen Anstalten durch Mangelernährung und damit zusammenhängende Infektionskrankheiten wie Tbc bedingt – war allerdings bei den Flüchtlingen im Hungerjahr 1917 mit 54,2 % wesentlich höher als bei den übrigen Patient*innen mit 22,4 % (gegenüber 5,9 % 1914). Dazu hatte nicht zuletzt die verpflichtende Ablieferung von Produkten der Anstaltslandwirtschaft an das Militär beigetragen. Der chronischen Überbelegung der Anstalt vor 1938 machte das NS-Regime mit Aktion T4 1940/41 ein mörderisches Ende. In kurzer Zeit wurden ca. 1300 Patient*innen nach Niederhart/Hartheim abtransportiert, sodass „volksdeutsche Umsiedler“ und ein Reservelazarett der Wehrmacht untergebracht werden konnte. Ab September 1943 diente die Anstalt auch als „Sammelstelle“ für „geisteskranke Ostarbeiter und Polen“ für die „Alpen- und Donaugaue“, die vermutlich in Hartheim ermordet wurden. Auch die 320 in die Heil- und Pflegeanstalt Gugging verlegten Patient*innen kamen um. Schließlich wurde Mauer-Öhling wie auch Gugging 1944/45 zum Tatort des nationalsozialistischen Exzesstäters Emil Gelny, der mit Hilfe des ärztlichen und Pflegepersonals 190 Patient*innen mit Elektroschocker und Injektionen ermordete. Die Autoren weisen nach, dass der NS-Organisationsgrad der dort tätigen Ärzte mehr als das Doppelte des Durchschnitts der österreichischen Ärzt*innen (35 %) betrug.

Der umfangreichste Beitrag stammt von Peter Schwarz, einem ehemaligen DÖW-Mitarbeiter, der seit vielen Jahren sowohl zum Hungersterben im Ersten Weltkrieg als auch über die NS-Euthanasiemaßnahmen in der größten österreichischen Anstalt Wien-Steinhof forscht und dazu publiziert hat. (Hier sei nur am Rande angemerkt, dass der Anstaltsname aus politischen Erwägungen derart oft geändert wurde, dass deren Anführung hier zu weit führen würde. Der Standort dieser von Otto Wagner großzügig konzipierten Anstalt wird derzeit aufgelassen.) Die 1907 eröffnete Anstalt Steinhof, damals eine der größten und modernsten Einrichtungen in Europa, mit 2200 Betten stieß durch Überbelegung schon bald an ihre Kapazitätsgrenzen, was sich nach Kriegsausbruch 1914 durch Verlegungen ständig verschärfte. Der Autor arbeitet heraus, dass die Einführung der staatlichen Lebensmittelrationierung 1915 zu einer katastrophalen Versorgungs- und Ernährungskrise führte, die für Tausende Pfleglinge Unterernährung und Hungertod bedeutete. Die Mortalitätsrate stieg von 10,9 % 1914 auf 28,6 % 1917; die Übersterblichkeit 1914-1918 betrug 2800 Pfleglinge, für den gesamten Zeitraum bis 1923 errechnet Schwarz 4100 umgekommene Pfleglinge. Erst 1923 wurden wieder Vorkriegswerte erreicht. Durch die Trennung Niederösterreich – Wien kam die Anstalt Steinhof, ebenso die in Ybbs, 1922 in die Verwaltung des neuen Bundeslandes Wien, wodurch Steinhof von den Reformen des Gesundheitsstadtrates Julius Tandler profitierte, u. a. wurde eine „Trinkerheilstätte“ eingerichtet.

Schwarz zeigt auf, dass das NS-Regime Steinhof von jüdischen Ärzten säuberte und fanatische NS-Ärzte einsetzte (u. a. Erwin Jekelius, Ernst Illing und Hans Bertha), die die von Berliner Zentralstellen organisierten Mordaktionen konsequent durchführten. So wurden im Zuge der „Aktion T4“ 1940/41 3200 Patient*innen, darunter 400 Jüdinnen und Juden, in die Tötungsanstalt Hartheim gebracht; 789 Kinder und Jugendliche wurden in der „Kinderfachabteilung“ am Spiegelgrund von Ärzten wie Heinrich Gross ermordet. Nach dem Ende von T4 1941 ging das NS-Regime zu dezentralen Morden in den Anstalten über. Neben dem systematischen Aushungern der Pfleglinge führten auch Faktoren wie Überbelegung, Vernachlässigung, Kälte, Medikamentenmangel sowie Infektionskrankheiten wie Tbc zu einem Massensterben. Die Sterberate stieg von 6 - 7 % in der Vorkriegszeit auf 42,8 % 1945. Insgesamt fielen — nach Berechnungen von Schwarz — dieser Mordaktion ca. 3500 Personen zum Opfer. Der Autor resümiert, dass das Massensterben in der Anstalt im Ersten und im Zweiten Weltkrieg zwar quantitativ vergleichbar war, betont aber die wesentlichen qualitativen Unterschiede, die in der Versorgungskrise im Ersten Weltkrieg und einer „rassenhygienisch“ und ökonomisch motivierten vorsätzlichen Mordaktion unter dem NS-Regime bestanden. In diese Morde waren - neben den Berliner Zentralstellen und den Zuständigen in der staatlichen und kommunalen Verwaltung in Wien - Anstaltsärzt*innen und Pflegepersonal involviert waren.

Die Lektüre dieser Publikation ist vornehmlich einer medizin- und psychiatriegeschichtlich interessierten Leserschaft zu empfehlen.

 

Rachbauer, Markus / Schwanninger, Florian (Hrsg.): Krieg und Psychiatrie. Lebensbedingungen und Sterblichkeit in österreichische Heil- und Pflegeanstalten im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Innsbruck — Wien: Studienverlag 2022, 176 S.

 

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