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Zur Problematik der NS-Vergangenheit Österreichs

Wolfgang Neugebauer

Referat anlässlich der Enquete "Rassismus und Vergangenheitsbewältigung in Südafrika und Österreich - ein Vergleich?" im österreichischen Parlament, Wien, 31. Mai 2000

 

Sehr geehrte Damen und Herren!

 

Ich darf zuerst für die Einladung zur Mitwirkung herzlich danken und Herrn Ntsebeza meinen Respekt und Sympathie für sein Land zum Ausdruck bringen, das unter der Führung von Nelson Mandela der ganzen Menschheit ein Vorbild für eine friedliche, demokratische und humane Revolution gegeben hat.

 

Wenn im Vorfeld dieser Veranstaltung von bestimmter Seite polemische Kritik an der Zulässigkeit von historischen Vergleichen vorgebracht worden ist, halte ich es für notwendig festzustellen, dass Vergleiche zwischen politischen Bewegungen, Ideen und Systemen politisch und wissenschaftlich durchaus fruchtbar und sinnvoll sein können. Vergleichen heißt nicht gleichsetzen. Der Vergleich kann die totale oder partielle Gleichartigkeit, aber auch die Unterschiede sichtbar machen.

 

Aus meiner Kenntnis des Nationalsozialismus und aufgrund meines bescheidenen Wissens über Südafrika konstatiere ich große Unterschiede für die Systeme an sich, aber Ähnlichkeiten bei den Problemen der Aufarbeitung nach dem Sturz der Regime. Der Nationalsozialismus war eine totalitäre Diktatur, die eine bis zum systematischen staatlichen Massenmord gesteigerte rassistische Politik (gegen Juden, Roma, Behinderte, Andersdenkende und andere als minderwertig qualifizierte Völker) bis zur letzten Konsequenz verwirklichte und ihr Herrschaftssytem in einem Weltkrieg durchzusetzen versuchte. Österreich war zwar als Staat Opfer des deutschen NS-Regimes, die Österreicher als Volk waren aber mitbeteiligt am NS-System, waren dessen Mitträger und Nutznießer, nur eine Minderheit waren Gegner und Widerstandskämpfer. Das Apartheidsregime war die rassistische Herrschaft einer Minderheit über die Mehrheitsbevölkerung mit massenhaften Menschenrechtsverletzungen, Folter, Morden und Massakern, rassistischer Umstrukturierung, Umsiedlung und Ausbeutung, aber ohne systematischen Genozid, wobei innerhalb der herrschenden Minderheit formal parlamentarisch-demokratische Formen weiterbestanden. Eine überwältigende Mehrheit von Unterdrückten lehnte das Regime ab und leistete Widerstand. Das NS-Regime wurde durch einen Krieg von außen gewaltsam beseitigt und zumindest vorübergehend ein Besatzungsregime der Befreier aufgerichtet. Das Apartheidregime wurde durch breiten Widerstand von innen, durch Druck von außen und Nachgeben der herrschenden Minderheit, durch Verhandeln und Ausarbeitung eines gemeinsamen Weges der Konfliktbeteiligten mehr oder weniger friedlich überwunden. Österreich war 1945-1955 vierfach besetzt und noch nicht vollständig souverän; es war durch den Krieg stark in Mitleidenschaft gezogen. Südafrika war durch den Sturz des Apartheidsregimes erstmals ein völlig freies und demokratisches Land geworden; der weitere Weg war aber durch den historischen Kompromiss und die machtpolitisch labile Situation in der Übergangszeit vorgezeichnet.

 

Das heißt, die Voraussetzungen für die Überwindung der untergegangen Regime waren völlig andere. Die grundlegenden Probleme - die Verfolgung der Täter, die Säuberung des Staatsapparates, die Entschädigung der Opfer, die historische Aufarbeitung, die geistige Überwindung des Rassismus - waren ähnlich, wurden aber mit unterschiedlichen Methoden und Ergebnissen bewerkstelligt.

 

Beim Umgang mit der NS-Vergangenheit unterscheide ich drei Phasen:

 

a) die kurze antifaschistische Periode 1945/46

b) die lange Periode der Reintegration der Nationalsozialisten und der Dominanz der Kriegsgeneration, spätestens ab 1949 bis in die 80er Jahre

c) die Periode zunehmender kritischer Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, besonders seit der Waldheimdiskussion 1986

 

a) Antifaschistische Periode 1945/46

 

Nach der Niederringung Hitler-Deutschlands 1945 stellte sich für die alliierten Siegermächte ebenso wie für die Nachfolgestaaten die Überwindung des Nationalsozialismus auf allen gesellschaftlichen Ebenen als eine Hauptaufgabe. Mit den Nürnberger Prozessen hatten die Alliierten eine neue Form internationaler Ahndung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit geschaffen, die für Nachkriegseuropa maßgeblich war. Auch in dem im April 1945 wiedererstandenen Österreich herrschte - vorerst - bei den politischen Kräften wie auch in weiten Teilen der Bevölkerung ein antifaschistischer Geist. Schon in der Regierungserklärung der Provisorischen Regierung Karl Renners vom 27. April 1945 wurde die Abrechnung mit dem Nationalsozialismus angekündigt. In dem von der Provisorischen Regierung erlassenen Verfassungsgesetz vom 8. Mai 1945 über das Verbot der NSDAP wurden nicht nur das Verbot der NSDAP und aller ihrer Gliederungen ausgesprochen, sondern auch die Registrierung der Nationalsozialisten verfügt, Strafbestimmungen gegen so genannte "Illegale" und "schwer belastete" Nationalsozialisten und Förderer erlassen sowie Volksgerichte zur Aburteilung der NS-Verbrecher geschaffen. Damit waren bereits die ersten gesetzlichen Grundlagen für die Entnazifizierung errichtet worden. Das 1947 beschlossene NS-Gesetz sah neben der Registrierung der ehemaligen Nazis deren Säuberung aus Staat und Wirtschaft, Berufsverbote, Sühnemaßnahmen, Wahlausschluss und anderes vor.

 

Die formal-bürokratische und halbherzige Art der Entnazifizierung war jedoch kaum dazu geeignet, eine wirkliche Entnazifizierung im Sinne einer Hinführung ehemaliger Nationalsozialisten zur Demokratie zu erreichen. Die von den Sühnemaßnahmen Betroffenen fühlten sich ungerechtfertigt verfolgt; Parteimitglieder und Waffen-SS-Angehörige sahen sich für NS-Verbrechen nicht verantwortlich, sie meinten sich "anständig" verhalten und nur ihre "Pflicht" erfüllt zu haben. Nicht wenige entwickelten infolge der Entnazifizierung eine Aversion gegen das demokratische Österreich, verharrten zumindest teilweise in ihren alten Vorstellungen und wandten sich bald wieder deutschnationalen und rechtsextremen Organisationen zu.

 

Die bürokratisch-formale Entnazifizierung, von außen aufgezwungen und widerwillig durchgeführt, musste scheitern. Den administrativen Maßnahmen folgte keine breite geistige Offensive, eine antifaschistisch-demokratische Aufklärung; d. h. jene "Umerziehung", die zum neonazistischen Standardvokabel wurde, fand in Wirklichkeit nicht statt. Das, was die Wahrheitskommission in Südafrika geleistet hat, wurde in Österreich nicht einmal in Ansätzen versucht. Es gab weder Schuldeinsicht von Tätern und Mitläufern noch eine öffentliche Bekundung der Abkehr von nazistischem und rassistischem Gedankengut, es gab keine Reue oder freiwillige Sühne von Schuldigen, es gab keine Konfrontationen oder gar Gespräche und Dialoge zwischen Tätern und Opfern. Im Grunde haben sich Täter und Mitläufer bis heute der Mitwirkung bei der Aufarbeitung verweigert. Eine Versöhnung - was immer darunter verstanden wird - wurde nicht einmal angedacht.

 

Das Verfassungsgesetz vom 26. Juni 1945 über Kriegsverbrechen und andere nationalsozialistische Untaten, das so genannte Kriegsverbrechergesetz, war die Grundlage für die strafrechtliche Auseinandersetzung mit dem NS-Regime. In dieser ersten, vom Antifaschismus geprägten Phase wurden gerichtliche Verfahren in großer Zahl eingeleitet; die polizeilichen Ermittlungen wurden gründlich und sorgfältig durchgeführt, und die Urteile waren angemessen streng - die meisten der 42 ausgesprochenen Todesurteile fallen in diese Zeit.

 

In dieser Zeit 1945/46 wurden zwar keine wissenschaftlichen Arbeiten zur NS-Vergangenheit durchgeführt, doch die damals abgewickelten Gerichtsverfahren waren nicht zuletzt aufgrund der breiten Medienberichterstattung wichtig für die öffentliche Bewusstseinsbildung. Zwei wichtigen Projekten der Vergangenheitsaufarbeitung, der 1946 in Wien abgehaltenen großen Gedenkausstellung "Niemals vergessen!" und dem 1946 von der Bundesregierung herausgegebenen "Rot-Weiß-Rot-Buch" über Widerstand und Verfolgung in der NS-Zeit, folgten keine weiteren Schritte.

 

Schon in dieser antifaschistischen Phase wurde die Auffassung von Österreich als erstem Opfer des Nationalsozialismus vertreten, indem die entsprechende Passage aus der durchaus ausgewogenen Moskauer Deklaration der Alliierten 1943 einseitig hervorgekehrt und die Mitverantwortung der Österreicher für das NS-Regime und dessen Verbrechen ausgeblendet wurde.

 

b) Periode der Reintegration der Nationalsozialisten und der Dominanz der "Kriegsgeneration"

 

Der antifaschistische Geist von 1945 flaute bald ab. In der Weltpolitik beendete der Kalte Krieg zwischen Ost und West die Anti-Hitler-Koalition, Antikommunismus trat anstelle des Antifaschismus. Die Nationalsozialisten, die sich ja immer schon als die Vorkämpfer gegen den Bolschewismus aufgespielt hatten, wurden wieder aufgewertet. Die Maßnahmen zur Entnazifizierung und Strafverfolgung waren nicht mehr politisch opportun. In Österreich setzte ein Wettlauf aller Parteien um die ehemaligen Nationalsozialisten ein, die als Wähler und Parteimitglieder gebraucht wurden. Bald standen diesen die Führungspositionen wieder offen.

 

688.000 Österreicher gehörten der NSDAP an; weitere hunderttausende den verschiedenen NS-Gliederungen; 1,2 Millionen Österreicher dienten in der deutschen Wehrmacht. Diese so genannte Kriegsgeneration war zahlenmäßig weitaus stärker als die Widerstandskämpfer und die überlebenden oder aus dem Exil zurückgekehrten NS-Opfer und dominierte daher Politik und Gesellschaft im Nachkriegsösterreich.

 

Die 1938 Vertriebenen wurden von Österreich nicht zurückgeholt; die wenigen Remigranten spielten in Politik und Gesellschaft keine Rolle. Im Bereich Kultur und Wissenschaft, wo vielfach Nazis an die Stelle der Vertriebenen getreten waren, dachte man gleichfalls nicht an die Rückholung der Exilierten. Zu Recht ist in diesem Zusammenhang konstatiert worden, dass der endgültige Exodus von Künstlern und WissenschaftlerInnen einen "enormen und nicht mehr korrigierbaren geistigen Aderlass" bedeutete. Der negativen Haltung von Politik und Bürokratie entsprach die antisemitisch gefärbte, gegen Remigranten gerichtete Stimmung in weiten Kreisen der Bevölkerung.

 

Die auf den ersten Blick hart aussehenden Entnazifizierungsmaßnahmen wurden schon bald durch eine milde Praxis, vor allem durch mehrere Amnestien seit 1948 abgeschwächt. Die NS-Amnestie 1957 setzte den Schlusspunkt: Sie beinhaltete Wiedereinstellungen, Gehalts- und Pensionsnachzahlungen, Vermögensrückstellungen, die Aufhebung aller Verbots- und Sühnemaßnahmen, Strafnachsicht und Tilgung von Verurteilungen und brachte die völlige politische und wirtschaftliche Gleichstellung der ehemaligen Nationalsozialisten. Praktisch wurde die Entnazifizierung damit rückgängig gemacht. Mit diesem Reintegrationsprozess in die Gesellschaft war keinerlei geistige oder moralische Wandlung und innere Umkehr verbunden, zumal die Anbiederung der Politik an diesen Personenkreis die Betroffenen in ihrer Uneinsichtigkeit und ihrem Unschuldig-Fühlen bestärkte. "Wir alle sind unschuldige Täter" lautet der zutreffende Titel eines Buches von Ruth Wodak.

 

Hand in Hand damit ging auf der politischen Ebene die Rekonstruktion des deutschnational-rechtsextremen Lagers vor sich, als deren parlamentarische Vertretung der VdU bzw. ab 1956 die FPÖ anzusehen ist. Insbesondere die den Hitlerkrieg verherrlichenden Veteranenorganisationen errangen einen hohen Stellenwert, aber selbst neonazistische Gruppierungen wie NDP oder ANR konnten lange Zeit legal operieren; NS-Apologie und Leugnung der NS-Verbrechen wurden von Behörden und Politik toleriert.

 

Brigitte Bailer hat in ihrer Arbeit über die österreichische Opferfürsorgegesetzgebung herausgearbeitet, dass Maßnahmen zugunsten der NS-Opfer meist mit "Wiedergutmachung" für ehemalige Nazis verbunden wurden. Von den zahlreichen Schritten zur "Bereinigung der Nationalsozialistenfrage" sei hier nur der letzte angeführt: 1969 beschloss der Nationalrat das so genannte Zwischenzeitengesetz, das die Anrechnung der Zeiten der Außerdienststellung aufgrund des NS-Gesetzes und deutscher Dienstzeiten auf die Vorrückungen und die Bemessung der Pensionen öffentlich Bediensteter sowie die Zuerkennung von Zulagen für ehemals gemaßregelte Bedienstete verfügte. So wurde nicht nur der Dienst in der kämpfenden Truppe der Waffen-SS als Militärdienstzeit anerkannt, sondern auch Tätigkeiten im RSHA, im SD oder bei SS-Mordeinheiten.

 

Diese Grundtendenz der Begünstigung der ehemaligen Nationalsozialisten kam auch im Bereich der Justiz in vollem Ausmaß zur Wirkung. Die Urteilssprüche der Volksgerichte werden immer milder, zum Teil erfolgen Freisprüche mit haarsträubenden juristischen Konstruktionen, Verfahren werden ohne wirkliche Begründungen eingestellt bzw. Anklagen zurückgelegt, strenge Urteile werden in neuen Verfahren gemildert oder aufgehoben; Amnestien und Begnadigungen sorgen dafür, dass bald auch die schwersten Verbrecher wieder in Freiheit sind. Auch die Straffolgen (verfallene Vermögen, aberkannte akademische Grade, Entlassungen etc.) werden rückgängig gemacht. Mit Verfassungsgesetz vom 20. 12. 1955 wurden die Volksgerichte aufgehoben, wodurch die Zuständigkeit der normalen Geschwornen- bzw. Schöffengerichte eintrat. Die Geschwornenprozesse gegen NS-Täter sind überhaupt das beschämendste Kapitel der österreichischen Nachkriegs- und Justizgeschichte. Die schon bei den Volksgerichten zu beobachtende Tendenz zur Milderung verstärkte sich noch mehr, sodass entweder provozierend niedrige Strafen oder Freisprüche auch für schwerste Delikte wie Massenmord zustande kamen, sofern überhaupt noch die Verfahren bis zur Anklageerhebung oder bis zum Prozess gediehen. De facto war 1975 durch den damaligen Justizminister Dr. Christian Broda die Verfolgung aller NS-Straftaten eingestellt worden, offiziell wurde dies nie bekannt gegeben und auch nicht begründet - es wäre ja eklatant rechtswidrig gewesen, noch dazu wo der Nationalrat 1963 bzw. 1965 zwecks weiterer Verfolgung der NS-Verbrechen die Verjährungsbestimmungen für Mord aufgehoben hatte. Inoffiziell wurde diese Haltung mit den Geschworenenfreisprüchen, mit dem großen zeitlichen Abstand, den dadurch hervorgerufenen Ungenauigkeiten in Zeugenaussagen und dgl. begründet.

 

Der justizielle Weg der Vergangenheitsaufarbeitung war also spätestens 1975 zu einem Ende gekommen; die Ergebnisse waren bescheiden, nur ein kleiner Teil der Täter wurde belangt und bestraft. Durch die skandalöse Art der Verfahren konnte auch keine aufklärende Wirkung erzielt werden. Vielleicht wäre damals ein solches Verfahren wie die Wahrheitskommission Südafrikas sinnvoll gewesen; mangels Tradition und angesichts der politischen Realität wurde ein solcher Weg nicht einmal angedacht.

 

Viele Jahre nach 1945, in der schwierigen Nachkriegszeit und in den Jahren des Wiederaufbaus bis in die sechziger Jahre, als eine Mentalität des Pragmatismus, des Verdrängens und Vergessens vorherrschte, war das Interesse für Zeitgeschichte und insbesondere für die NS-Zeit in Österreich sehr gering. Der "innere Friede" sollte nicht durch Aufwühlen einer konfliktgeladenen Vergangenheit gestört werden. Selbst in der Kommunistischen Partei, die einen hohen Anteil ehemaliger WiderstandskämpferInnen und KZ-Häftlinge aufwies, wollten damals nur wenige von KZ oder Judenverfolgung hören, wie u. a. Hermann Langbein, der Pionier der Auschwitzforschung, schmerzlich feststellen musste. In der SPÖ machten die Exponenten des Antifaschismus wie Rosa Jochmann oder Josef Hindels ähnliche Erfahrungen. Bis Mitte der sechziger Jahre gab es weder an den Universitäten Zeitgeschichte noch wurde an den Schulen Politische Bildung betrieben. Nicht zuletzt die am Nazismus teilhabende oder von diesem geprägte LehrerInnengeneration hatte kein Interesse dafür. Die politisch-gesellschaftliche Dominanz der Kriegsgeneration erstreckte sich auch auf den wissenschaftlichen Bereich, wo viele ehemalige Nationalsozialisten wie z. B. der Antisemit Taras Borodajkewycz oder der Euthanasiearzt Dr. Hans Bertha als Professoren wirkten.

 

Nicht nur das offzielle Österreich vertrat die "Opfertheorie"; auch das Interesse der ehemaligen Verfolgten konzentrierte sich naturgemäß auf die Dokumentation des Widerstands und der Verfolgungsmaßnahmen; das Aufzeigen des Beitrags der WiderstandskämpferInnnen zur Befreiung und zur Wiedererrichtung der Republik Österreich war für diese Generation ein wichtigeres Anliegen als Täterforschung. Als wir 1977/78 gemeinsam mit den ehemaligen Häftlingen die österreichische Gedenkstätte in Auschwitz gestalteten, wurde nahezu ausschließlich das Schicksal der Häftlinge, unter Betonung des Widerstandes, dokumentiert; die österreichischen Auschwitz-Täter waren kein Thema. Selbstkritisch ist aus heutiger Sicht festzustellen, dass durch diese Ausklammerung eine Verzerrung der Realität im Sinne einer Schönfarbung der Österreicher erfolgte. Dass diese Gedenkstätte - Modelle und Pläne wurden zuvor im Museum für angewandte Kunst in Wien präsentiert - damals uneingeschränkten Beifall fand und Kritik erst viel später einsetzte, charakterisiert das österreichische Selbstverständnis in der Zeit vor der Waldheim-Diskussion.

 

Das offizielle Österreich wies im Sinne der "Opfertheorie" von Anfang an und bis zu Beginn der neunziger Jahre jede Schuld oder Mitverantwortung für die NS-Verbrechen von sich und sah daher auch keine Verpflichtung zur "Wiedergutmachung". Freiwillig habe es aber Österreich übernommen, für die Opfer des Kampfes für ein freies und demokratisches Österreich und der NS-Verfolgung (bzw. deren Angehörige oder Hinterbliebene) zu sorgen. Diesem Geist entsprang 1947 das "Opferfürsorgegesetz" (OFG), wobei der Kreis der anspruchsberechtigten Befürsorgten sehr eng gezogen und erst nach langwierigen Bemühungen erweitert wurde. Dabei wurde (und wird) zwischen "Opfern des Kampfes um ein freies, demokratisches Österreich" (§ 1, Abs.1), also Widerstandskämpfern, und "Opfern der politischen Verfolgung" (§ 1, Abs. 2), das waren politisch, religiös, national oder rassisch Verfolgte, unterschieden, wobei letztere eindeutig schlechter gestellt wurden. Während für die Opfer der politischen und rassistischen Verfolgung sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in Österreich eine Wiedergutmachung im Sinne einer bescheidenen finanziellen Abgeltung für Haftzeiten, wirtschaftliche Schäden, Gesundheitsschädigungen u. dgl. sowie einer Anerkennung von Rentenansprüchen u. a. erfolgte und damit auch eine gewisse politisch-moralische Anerkennung verbunden war, geschah für die andere Opfergruppen - Zwangssterilisierte, Euthanasieopfer, Homosexuelle und sogenannte "Asoziale" - überhaupt nichts.

 

c) Periode zunehmender kritischer Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit

 

Mit dem wachsenden Abstand von 1945 verlor die Kriegsgeneration aus biologischen Gründen an Bedeutung; für die nachwachsenden Generationen war die NS-Zeit kein Tabu mehr, sie wurden seit den siebziger Jahren in Schulen und Universitäten im Rahmen der Zeitgeschichte und Politischen Bildung mit NS-Verbrechen, mit NS-Opfern und -Gegnern konfrontiert. In diesem Zusammenhang ist die Ära Kreisky differenziert zu beurteilen: Einerseits setzte Kreisky die Politik des Opportunismus gegenüber den ehemaligen Nazis fort, indem er solche zu Ministern machte, den FPÖ-Obmann Friedrich Peter, einen belasteten SS-Offizier, in Schutz nahm und Simon Wiesenthal diffamierte; andererseits förderte er in entscheidender Weise Zeitgeschichte in Schulen und Universitäten, unterstützte das DÖW, die Gesellschaft für Politische Aufklärung u. a. und schuf ein liberales politisch-gesellschaftliches Klima in Österreich. So erhielt die Aufklärungsarbeit in den Schulen durch die von Hermann Langbein 1977 initiierte Aktion, Zeitzeugen in die Schulen zu Vorträgen, Diskussionen und Veranstaltungen zu schicken, einen starken Impuls. Ein Indiz für die an den Universitäten vor sich gegangenen grundlegenden Änderungen ist der Rückgang des Stimmenanteils des RFS von über 30 Prozent noch Ende der sechziger Jahre auf 4 Prozent in den neunziger Jahren.

 

In besonderer Weise hat die internationale Kontroverse um die Kriegsvergangenheit von Kurt Waldheim in Österreich tiefgreifende Diskussionen und letztlich Veränderungen des historisch-politischen Bewusstseins herbeigeführt. Die Opfertheorie konnte nicht mehr aufrechterhalten werden; immer mehr setzte sich die Erkennntis der Mitverantwortung der Österreicher für den Nationalsozialismus und dessen Verbrechen durch. Der offizielle Durchbruch erfolgte durch die von Bundeskanzler Vranitzky namens der Bundesregierung im Juni 1991 im Nationalrat abgegebene Erklärung.

 

Die hier skizzierten, in den letzten Jahren vor sich gegangenen Veränderungen im politisch-gesellschaftlichen Klima kamen letztlich auch den NS-Opfern zugute. Nach der Vranitzky-Erklärung von 1991 über die Mittäterschaft der Österreicher mussten im Bereich der NS-Opfer auch Taten folgen: 1995 wurde einstimmig im Nationalrat das Verfassungsgesetz über den Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus beschlossen, das erstmals alle Opfer des NS-Regimes anerkannte, also auch die bisher diskriminierten Zwangssterilisierten, Euthanasieopfer, Homosexuellen und als asozial Diffamierten. Schließlich ist nach langen Bemühungen der Betroffenen und internationalem Druck die Entschädigung der Zwangsarbeiter in Gang gekommen und über die Abgeltung des "arisierten" Vermögens wird zumindest diskutiert.

 

Ausblick

 

Die kürzlich abgegebene Erklärung des SPÖ-Vorsitzenden Alfred Gusenbauer über die "braunen Flecken" in der SPÖ zeigt, dass die Methode der Verdängung und Tabuisierung der NS-Vergangenheit der Bereitschaft zur kritischen Aufarbeitung, zum Eingestehen von Fehlern und Fehlentwicklungen zumindest in der österreichischen Sozialdemokratie Platz gemacht hat.

 

Die Frage, die am Schluss freilich zu stellen ist, lautet: Signalisiert der Regierungseintritt der FPÖ eine neue Phase im Verhältnis zur NS-Vergangenheit? Weist der Aufstieg der Haider-FPÖ auf das Scheitern der Bemühungen um Aufarbeitung des Nationalsozialismus hin? Ich meine, dass die Wahlerfolge der FPÖ seit 1986 nicht unmittelbar auf diesen Faktor zurückzuführen sind: Unbestreitbar ist aber, dass die NS-apologetischen Äußerungen (von der ordentlichen Beschäftigungspolitik bis zu den in Krumpendorf gelobten anständigen SS-Leuten) Haider bei den Wählern nicht geschadet haben. Kritisch und selbstkritisch ist festzustellen, dass die in den letzten Jahrzehnten geleistete politische Bildung offenbar nur einen Teil der österreichischen Bevölkerung erreichte und nicht zur Eindämmung einer xenophoben, z. T. rassistischen und rechtsextremen Partei geführt hat. Jedenfalls hat durch die Einbeziehung der FPÖ in die Regierung der Prozess der Aufarbeitung des Nationalsozialismus zumindest einen schweren Rückschlag erlitten und insbesondere das im Ausland mühevoll aufgebaute Image nachhaltig beschädigt, worüber auch die schönen Worte in der Präambel des Regierungsprogramms nicht hinwegtäuschen können.

 

 

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