logo
logo

NS-Justiz und politische Verfolgung in Österreich 1938 - 1945

Rezension von Peter Schwarz

Form, Wolfgang, Wolfgang Neugebauer, Theo Schiller (Hrsg.): NS-Justiz und politische Verfolgung in Österreich 1938-1945. Analysen zu den Verfahren vor dem Volksgerichtshof und dem Oberlandesgericht Wien. München: K. G. Saur Verlag 2006. 835 S.

 

Das internationale und interdisziplinäre Forschungsprojekt Hochverrat, Landesverrat, Wehrkraftzersetzung - politische NS-Strafjustiz in Österreich, das die Philipps-Universität Marburg in Kooperation mit dem DÖW von 1999 bis 2005 durchführte, markiert wohl einen der bedeutendsten Meilensteine auf dem Gebiet der Erforschung der politischen NS-Strafjustiz in Österreich. In quantitativer wie qualitativer Hinsicht darf zu Recht von einer Vervielfachung des Forschungsstandes gesprochen werden, nicht zuletzt weil es gelungen ist, für diese Studie in einem bisher noch nie da gewesenen Umfang relevantes Quellenmaterial zu mehreren tausend Verfahren - Urteile, Anklagen, Protokolle und polizeiliche Ermittlungsakten - heranzuziehen.

 

In der vorliegenden Publikation wird detailreich dargelegt, wie die Nationalsozialisten ihre politische Strafjustiz in Österreich - nur wenige Monate nach dem "Anschluss" - im Juni 1938 etablierten. Das österreichische Strafrecht, das nach der damals herrschenden Auffassung der NS-Juristen als "gleichwertiges germanisches Stammesrecht" galt, wurde zwar in seinem Grundbestand beibehalten, musste jedoch in der Sichtweise der NS-Machthaber in jenen zentralen Bereichen abgeändert werden, wo es dem NS-Herrschaftsinteresse unabdingbar notwendig erschien. Dass dies gerade auf dem Gebiet der politischen Strafjustiz der Fall sein würde, liegt auf der Hand: Denn neben dem Polizei- und SS-Apparat war es vor allem die NS-Strafjustiz, der die politische Gegnerbekämpfung zukam. Im Juni 1938 wurden daher die reichsdeutschen politischen Straftatbestände des Hoch- und Landesverrats auch in Österreich in Kraft gesetzt, wenngleich jene beiden Gerichte - der Volksgerichtshof und die politischen Oberlandesgerichtssenate -, denen die politische Strafjustiz übertragen wurde, für einige Paragraphen eine österreichspezifische Zuständigkeit erhielten. Auf die komplexen Sachverhalte, Besonderheiten und Probleme, die sich aus dem zeitgleichen Bestehen bzw. Zusammenwirken zweier unabhängiger Rechtssysteme (dem "österreichischen" und dem "altreichsdeutschen") ergaben, wird in der Studie besonderes Augenmerk gelegt.

 

Wie kam nun in Österreich ein Prozess vor dem Volksgerichtshof bzw. vor den politischen Senaten des Oberlandesgerichts (OLG) zustande? Nur in einigen wenigen Fällen war die eindeutige Zuweisung eines Beschuldigten an den Volksgerichtshof geregelt. Im Allgemeinen fiel diese Entscheidung in die Kompetenz der für den Volksgerichtshof zuständigen Anklagebehörde, der Oberreichsanwaltschaft. Das formale Procedere lief immer nach demselben Schema ab: Die Staatsanwaltschaft vor Ort meldete einen potenziellen Fall von Hoch- oder Landesverrat und (ab 1943 auch) von öffentlicher Wehrkraftzersetzung an die Oberreichsanwaltschaft nach Berlin. Diese entschied darüber, ob sich der Volksgerichtshof mit diesem Fall befassen sollte oder ob er an den Generalstaatsanwalt beim OLG Wien abzugeben sei. Selbstverständlich oblag es der Oberreichsanwaltschaft auch, ein Verfahren einzustellen oder es an die für Sondergerichtsverfahren zuständige Anklagebehörde abzutreten. Wurden die Ermittlungsergebnisse von der Oberreichsanwaltschaft in Berlin etwa an die Generalstaatsanwaltschaft beim OLG Wien delegiert, ergaben sich wiederum drei mögliche Entscheidungsvarianten: die Einleitung eines Prozesses vor dem OLG Wien, die Übertragung des Verfahrens an eine untergeordnete Staatsanwaltschaft oder die Verfahrenseinstellung. Was hier nach tausendfach geübter bürokratischer Verfahrensroutine aussieht, entschied in der alltäglichen Justizpraxis des "Dritten Reichs" über Leben und Tod von Angeklagten: Ab 1940 endete knapp die Hälfte aller Urteile des Volksgerichtshofs mit der Todesstrafe, während das OLG Wien eher in Ausnahmefällen (14 von 4163 Anklagen) Todesurteile verhängte. Derlei war kein Österreichspezifikum: Fast identische Ergebnisse kann die Forschergruppe auch aufgrund eines Parallelprojekts für das Gebiet des heutigen Bundeslandes Hessen nachweisen.

 

Ein wesentliches Merkmal der Studie ist es, dass sie in ihren Kernaussagen mit den Thesen der bisherigen Forschungsliteratur grosso modo übereinstimmt: Sie liefert in zahlreichen Fällen sozusagen im Nachhinein den akribisch recherchierten, d. h. empirisch abgesicherten Beweis für Erkenntnisse, denen in älteren wissenschaftlichen Werken aufgrund deren fragmentarischer Quellenlage bestenfalls hypothetischer Charakter zuerkannt werden konnte. So haben sich u. a. auch die Einschätzungen der Historiker Wolfgang Neugebauer und Radomir Luza, denen seinerzeit allerdings nur ein Bruchteil des dieser Studie zugrunde liegenden Datenmaterials zur Verfügung stand, eindrucksvoll bestätigt: Die nun vorliegenden Untersuchungsergebnisse belegen, dass der Widerstand der KommunistInnen gegen das NS-Regime von allen politischen Gruppen zahlenmäßig der weitaus stärkste war (was allein schon der hohe Anteil von KP-SympathisantInnen - etwa 80 % - an der Zahl aller angeklagten politisch organisierten WiderstandskämpferInnen widerspiegelt) und dass wiederum der Großteil der als KP-SympathisantInnen angeklagten Beschuldigten ursprünglich aus dem sozialdemokratischen Spektrum kam.

 

Es wäre aber höchst ungerecht, diese Studie nur im Lichte der Verifikation längst skizzenhaft bekannter Forschungsinhalte zu charakterisieren, weil sie mit einer Fülle an gänzlich neuen Forschungsresultaten aufwarten kann; hier sei stellvertretend ein Beispiel herausgegriffen: Aufgrund des bereits erwähnten Parallelprojekts für Hessen konnte zweifelsfrei konstatiert werden, dass die politische NS-Strafjustiz im "angeschlossenen" bzw. okkupierten Österreich deutlich rigoroser agierte als im "Altreich". Dies lässt sich vor allem an der Aufgabenverteilung zwischen dem Volksgerichtshof und den Oberlandesgerichten ablesen. In Hessen lag dieses Verhältnis bei 1:12, d. h., rund 93 % aller dortigen politischen Strafverfahren waren bei den Oberlandesgerichten Darmstadt und Kassel anhängig. Für Wien konnte hingegen eine Relation von 1:2 nachgewiesen werden, d. h., ein Drittel aller politischen Strafverfahren wurde nicht vor dem OLG Wien, sondern vor dem Volksgerichtshof verhandelt. Als Erklärung für diesen gravierenden Unterschied führen die Studienautoren u. a. plausibel vor Augen, dass in einem von Deutschland besetzten Land wie Österreich grundsätzlich politisch inkriminierte Handlungen und Äußerungen mit einer größeren Sensibilität wahrgenommen und bewertet wurden als im "Altreich". Mit anderen Worten: Die Justizbehörden stuften die ÖsterreicherInnen im Grad ihrer potenziellen Gefährlichkeit für das NS-Regime deutlich höher ein als die "Altreichsdeutschen". So gesehen spricht einiges dafür, den militärischen Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion im Sommer 1941 nicht als Auslöser, sondern bestenfalls als Katalysator für die Intensivierung des NS-Justizterrors in Österreich zu sehen.

 

Den Faktenstock für diese beeindruckende Studie bilden tausende Anklageschriften und Urteile, die Ausmaß und Effizienz der politischen NS-Strafjustiz in Österreich belegen: Immerhin kamen zwischen Juli 1938 und April 1945 von den mindestens 6336 Angeklagten 2137 vor den Volksgerichtshof, 4163 vor das OLG Wien und 36 vor das OLG Graz. Während die Tätigkeit des OLG Graz aufgrund der miserablen Aktenlage nur rudimentär untersucht werden konnte, war es hingegen nach Schätzungen des Forscherteams möglich gewesen, über 95 % aller Verfahren, die von den politischen Senaten des OLG Wien verhandelt worden waren, zu rekonstruieren. Alle vom Forscherteam erschlossenen Verfahren wurden mittlerweile komplett verfilmt und vom K. G. Saur Verlag (München) als Mikrofiche-Edition samt Erschließungsband Widerstand und Verfolgung in Österreich 1938-1945 publiziert. Über das Internetportal Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert online sind sie auch digital zugänglich.

 

Nur über wenige Bücher lässt sich bereits bei ihrem Erscheinen sagen, dass sie zur Standardliteratur zählen. Es braucht in diesem Fall keine prophetische Gabe um festzustellen, dass dieses Werk noch lange seinen verdienten Spitzenplatz in der einschlägigen Fachliteratur des deutschsprachigen Raumes einnehmen wird.

 

 

<< zurück

 

Unterstützt von: