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Standgerichtsverfahren in Niederösterreich, April 1945

Aus: Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Wien gegen den ehemaligen Landgerichtsdirektor Viktor Reindl und andere wegen Hochverrats und anderer Verbrechen, 23. 2 1948

 

LG Wien, Vg 8 Vr 398/51
DÖW E 19.287

 

Aus: Widerstand und Verfolgung in Niederösterreich 1934-1945, Bd. 2, S. 515-519.

Mit Urteil des LG Wien als Volksgericht vom 18. 6. 1948 wurden Viktor Reindl zu 5 Jahren, Johann Karl Stich zu 8 Jahren und Franz Dobravsky zu 2 Jahren schwerem Kerker verurteilt (LG Wien, Vg 8 Vr 398/51 = DÖW E 19.278).

 

 

Die Staatsanwaltschaft Wien erhebt gegen:


1. Dr. Viktor Reindl, geb. am 13. 3. 1895 [...] Oberlandesgerichtsrat a. D., in Wien 3. [...] wh. [...]
2. Dr. Johann Karl Stich, geb. am 20. 7. 1888 [...] Generalstaatsanwalt a. D., in Wien 8. [...] wh. [...]
3. Franz Dobravsky, geb. am 12. 3. 1898 [...] Buchhalter, zuletzt Salzburg [...] wohnhaft [...]
die Anklage: [...]

 

Dem Standgericht wurden in der Zeit vom Beginn seiner Tätigkeit in Stein, wo es seinen Sitz aufgeschlagen hatte, bis zum Ende des Krieges seitens Parteistellen und seitens der Gestapo beiläufig 80 Anzeigen erstattet. Es war nach der eingangs erwähnten Standgerichtsverordnung für alle Straftaten zuständig, durch die die deutsche Kampfkraft oder Kampfentschlossenheit gefährdet wurde. Auf das Verfahren hatten sinngemäß die Vorschriften der Reichsstrafprozeßordnung Anwendung zu finden. Das Urteil konnte nur auf Todesstrafe, Freispruch oder Überweisung an die ordentliche Gerichtsbarkeit lauten. Es bedurfte der Bestätigung durch den Reichsverteidigungskommissar, der auch Ort, Zeit und Art der Vollstreckung zu bestimmen hatte. Vorgesehen war auch, daß der Anklagevertreter diese eben erwähnten Befugnisse auszuüben hatte, wenn der Reichsverteidigungskommissar nicht zu erreichen und sofortige Vollstreckung unumgänglich war.

 

Die Voruntersuchung hat ergeben, daß lange nicht in allen Fällen, in denen eine Anzeige dem Standgericht erstattet wurde, auch wirklich Verhandlungen stattfanden. Der überwiegende Teil der Anzeigen wurde den ordentlichen Gerichten überlassen. Nach den Ergebnissen der Voruntersuchung endeten 6 Standgerichtsprozesse mit Schuldsprüchen und damit mit Todesurteilen. die auch sämtliche vollstreckt wurden. Dabei war in mehreren Fällen eine größere Anzahl von Personen angeklagt worden. Bei all diesen Verhandlungen führte der Beschuldigte Dr. Reindl den Vorsitz; bei den meisten war der Beschuldigte Dr. Stich Ankläger. In den übrigen Fällen fiel diese Aufgabe dem Staatsanwalt Dr. Herbert Mochmann zu, der später durch Selbstmord geendet hat.

 

Folgende Standgerichtsurteile sind gefällt worden:

 

1. Franz Giza, Urteil vermutlich am 13. 4. 1945 in Stein. Franz Giza war Kriegsversehrter. stammte aus dem Rheinland, wohnte jedoch in Krems. Er wurde beschuldigt, an Soldaten gegen Geld. Rauchwaren und Uniformstücke Zivilkleider verkauft zu haben und diese Soldaten öffentlich zur Fahnenflucht aufgefordert zu haben. Er wurde wegen Wehrkraftzersetzung verurteilt.

 

2. Hermann Steinmayer, Urteil vermutlich 13. 4. 1945, Stein. Steinmayer stammte aus Krems. Er war Soldat und blieb auf einer Kurierfahrt in Krems. Infolge eines Bombenschadens, der dem Vermögen seiner Familie zustieß, blieb er immer länger. Er wurde wegen Fahnenflucht verurteilt. Möglicherweise wurde auch Wehrkraftzersetzung angenommen, da er öffentlich in einen politischen Wortwechsel verwickelt wurde.

 

3. Dr. Otto Kirchl und andere, Urteil 13. 4. 1945, St. Pölten. Bei dieser Verhandlung wurden insgesamt 13 Personen angeklagt, davon 12 verurteilt und hingerichtet, und zwar: Dr. Otto Kirchl, dessen Gattin Hedwig Kirchl, Josef Trauttmannsdorf [richtig: Trauttmansdorff], dessen Gattin Ellie, Anton Klarl, dessen Gattin Marie Klarl, ferner Johann Dürauer, Josef Heidmeyer, Felix Faux, Johann Klapper, Josef Böhm, Konrad Gerstl und Josef Koller, welch letzterer freigesprochen wurde.
Es handelt sich um Polizeibeamte in St. Pölten sowie Gutsbesitzer und Bauern der Umgebung sowie deren Angehörige, die eine Widerstandsgruppe gebildet hatten und Sabotage- und Kampfabsichten für den Zeitpunkt des Nahens der russischen Truppen hatten, aber verraten worden waren. Sie wurden wegen Vorbereitung zum Hochverrat abgeurteilt. Bei dieser Verhandlung war der Beschuldigte Dobravsky Beisitzer.

 

4. Dr. Kullnig und andere, Urteil vermutlich 15. 4. 1945, Stein. Anklagevertreter war in diesem Fall Dr. Mochmann. Auch hier handelte es sich um eine Gruppe von Freiheitskämpfern, der der Arzt Dr. Kullnig, der Friseur Cseloth [richtig: Czeloth] und ein gewisser Ebentheuer sowie einige andere, namentlich noch nicht ermittelte Personen angehörten. Sie wurden beschuldigt, sich mit roten Fahnen und Volkssturmwaffen in ein Gehöft zurückgezogen zu haben, um gemeinsame Sache mit den russischen Truppen zu machen. Es lag also Vorbereitung zum Hochverrat im Sinn der deutschen Gesetzgebung und Feindbegünstigung vor.

 

5. Franz Schweiger und andere. Urteil vermutlich 21. 4. 1945, Stein. Hauptmann Franz Schweiger war Kommandant des Kriegsgefangenenlagers Gneixendorf. Unter der Wachmannschaft dieses Lagers bestand eine Widerstandsgruppe österreichisch gesinnter Offiziere und Soldaten, die vermeiden wollten, im letzten Augenblick noch im Kampf eingesetzt zu werden. Über Befehl Schweigers wurde die Mehrzahl der Wachmannschaft in einem Marschblock zusammengefaßt und unter dem Kommando des Oberleutnants Kilian nach Westen in Marsch gesetzt. Kilian sollte. wenn schon nicht direkt zu den russischen Truppen oder Partisaneneinheiten übergehen, so doch so lange im Waldviertel kreuz und quer marschieren, bis er von den russischen Truppen eingeholt würde. Dieser Plan wurde der Gestapo durch V-Leute verraten und die gesamte Mannschaft des Marschblockes, zu der nicht nur Leute der Widerstandsgruppe, sondern auch nationalsozialistisch gesinnte Soldaten gehörten, festgenommen. Dabei wurden bei Oberleutnant Kilian und Feldwebel Zelenka rote und rot-weiß-rote Fahnen und einige Uniformstücke des Kriegsgegners gefunden. [...] Das Todesurteil an Schweiger, Kilian und Zelenka wurde in Krems öffentlich durch Erhängen vollzogen. Es geschah dies auf ausdrückliche Weisung des Gauleiters Dr. Jury.

 

6. Franz Novotny und andere. Urteil vermutlich 29. 4. 1945, Stein. Ankläger bei dieser anscheinend letzten Verhandlung des Standgerichtes war nicht der Beschuldigte Stich, sondern Dr. Mochmann. Gegenstand der Verhandlung waren die oben erwähnten Plünderungshandlungen einiger Angehöriger der Wachmannschaft im Lager Gneixendorf. Angeklagt waren Franz Novotny, Robert Dobrozemsky und Hermann Rechling, die sämtliche verurteilt wurden, weil sie überwiesen wurden, bedeutende Mengen von Wehrmachtsgut sich angeeignet, es zum Teil im Schleichhandel veräußert, zum Teil aber in der Absicht späterer Verwertung in einem Versteck eingemauert zu haben, wo es im Zuge der Erhebungen durch die Gestapo gefunden wurde. [...]

 

Alle diese Fälle wurden im Zuge der Voruntersuchung, soweit dies heute noch möglich ist, überprüft, um festzustellen, ob die Fällung der Todesurteile nach den zur Zeit der Standgerichtsverhandlungen bestehenden gesetzlichen Vorschriften berechtigt und wirklich unvermeidbar war oder ob sich die als Richter und Ankläger daran Beteiligten wahllos zu Schergendiensten für das nationalsozialistische Gewaltregime hergegeben haben.

 

Das Ergebnis dieser Überprüfung war, daß den Beschuldigten, was die in Stein durchgeführten Verhandlungen betrifft, ein strafrechtlich zu verantwortendes Verschulden nicht zum Vorwurf gemacht werden kann. Wohl war das Verfahren kurz und wurde ohne umfangreiche Beweisaufnahmen durchgeführt: wohl waren Ankläger und Vorsitzender zu den Angeklagten überaus streng, aber all dies entspricht dem Wesen des Standgerichtes. Der Beschuldigte Dr. Stich brachte - wie dies auch in der österreichischen Strafprozeßordnung, die ja gleichfalls ein standgerichtliches Verfahren kennt, vorgeschrieben ist - grundsätzlich nur solche Fälle zur Anklage, in denen der Schuldbeweis ohne Verzug erbracht werden konnte. Damit war aber für das Gericht die Fällung der Todesurteile unvermeidbar geworden. Es kann auch nicht gesagt werden, daß die in Stein zur Verhandlung gebrachten Fälle so geringfügiger Natur gewesen wären, daß Dr. Stich von einer Anklageerhebung ohne weiteres hätte absehen und sie dem ordentlichen Gericht hätte überlassen können. Die Verhandlungen wurden freilich alle ohne Zuziehung eines Verteidigers durchgeführt. Nach den damals geltenden Vorschriften, und zwar nach der sogenannten Vierten Verordnung zur Vereinfachung der Strafrechtspflege vom 13. 12. 1944, RGBI. 1 S. 339, war der Verteidigungszwang aber weitestgehend eingeschränkt. Es stand praktisch im Ermessen des Richters, ob er dem Angeklagten einen Verteidiger zur Seite stellte oder nicht [...]

 

Hingegen ist die Standgerichtsverhandlung vom 13. 4. 1945 in St. Pölten nach den Ergebnissen der Voruntersuchung von den Beschuldigten in einer Weise durchgeführt worden, die so bedenklich ist, daß sie dafür auch strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden müssen.

 

Während das Gebiet von Krems und Stein bis zum Waffenstillstand am 8. 5. 1945 in deutscher Hand blieb, wurde St. Pölten am 14. 4. 1945 von den deutschen Truppen geräumt, also am Tag nach der nunmehr unter Anklage gestellten Verhandlung gegen Dr. Kirchl und dessen Gesinnungsgenossen. Die Standgerichtsverhandlungen in Stein spielten sich daher in einer wesentlich ruhigeren Atmosphäre ab als die am 13. 4. 1945 in St. Pölten, die bereits ganz unter dem Eindruck dauernder russischer Tieffliegerangriffe und des unmittelbar bevorstehenden Falles der Stadt stand.

 

Dr. Otto Kirchl, der stellvertretende Polizeidirektor von St. Pölten, war Führer einer bedeutenden Widerstandsgruppe, und eben wegen dieser besonderen Bedeutung sollte über Weisung des Gauleiters Dr. Jury in unmittelbarer Frontnähe ein durch seine Härte abschreckendes Exempel statuiert werden. Daß Dr. Jury entschlossen war, mit allen Mitteln das schwankende nationalsozialistische Regime zu stützen, und daß er auch vor Grausamkeitsakten nicht zurückscheute, war den Beschuldigten - wie oben im Falle des Blutbades in Stein dargelegt [siehe Stein, 6. April 1945] - bekannt. [...]

 

Das Standgericht traf früher ein, als ursprünglich von der Gestapo, die die Verhaftungen vorgenommen und die Erhebungen durchgeführt hatte, selbst erwartet wurde: insbesondere war es noch nicht möglich gewesen, das sogenannte Abschlußprotokoll anzufertigen; eine zusammenhängende Darstellung, in welcher bei der Erstattung einer Anzeige das Ergebnis der Erhebungen zusammengefaßt wird, lag dem Standgericht daher nicht vor. Für die Beschuldigten Dr. Reindl und Dr. Stich, die vor der Verhandlung die Gestapoprotokolle durchlasen, mochte der Zusammenhang wenigstens in großen Zügen klar sein; bei den Beisitzern war dies aber nicht der Fall, denn der Beschuldigte Dr. Reindl beschränkte sich als Vorsitzender auf kurze Vernehmungen der Angeklagten und einige wenige Fragen und schnitt Versuche der Angeklagten, sich ausführlich zu verantworten, schroff ab. Wie lange die ganze Verhandlung dauerte, steht nicht eindeutig fest; nach Darstellung der Beschuldigten Dr. Stich und Dr. Reindl und des Zeugen Röhrling, der allerdings nicht selbst dabei zugegen war, höchstens 3-4 Stunden; der Beschuldigte Dobravsky freilich behauptet eine wesentlich kürzere Dauer. Letztere Angabe wird sinngemäß auch vom Zeugen Sticha bestätigt. Rechnet man für jeden der dreizehn damals Angeklagten nur eine Vernehmungszeit von durchschnittlich 10 Minuten, so kommt man bereits auf über 2 Stunden; viel länger hat die reine Verhandlungszeit, zu der dann noch die Zeit für den Schlußvortrag des Anklägers, die Urteilsberatung und die Verkündung des Urteils kam, offenkundig nicht gedauert; sie hat sich also tatsächlich - wie der Zeuge Koller bekundet, der damals gleichfalls angeklagt war, aber als einziger freigesprochen wurde - in einem kinomäßigen Tempo abgespielt, dem sogar ein Teil der Richter, nämlich die Beisitzer, nicht folgen konnte.

 

Wie sich aus den erwähnten Zeugenaussagen auch ergibt, war der Sachverhalt insofern nicht völlig geklärt, als zwar alle Verurteilten Geständnisse abgelegt hatten, die aber verschiedenen Umfang hatten; auch standen die Angaben einzelner Angeklagter untereinander in Widerspruch, wie durch die Aussage des Zeugen Koller bezüglich des damals mitangeklagten Johann Klapper zu erweisen ist. Auch ergab sich, daß die Schuld der Betroffenen verschieden schwer war.

 

Bei diesem Sachverhalt hätte zumindest bei einem Teil der damals Angeklagten die Möglichkeit bestanden, die Sache dem ordentlichen Gericht abzutreten, das dann auch die Möglichkeit gehabt hätte, in dem einen oder anderen Fall von der Todesstrafe abzusehen und dadurch die Strafe dem Verschulden anzupassen. Über diesen zumindest bei einigen der damals Angeklagten bestehenden Ausweg hat sich aber vor allem der Beschuldigte Dr. Reindl, dem die Führung der Verhandlung oblag, hinweggesetzt. Dabei wurde er naturgemäß durch das Fehlen rechtskundiger Verteidiger, die auch in diesem Fall nicht beigestellt wurden, begünstigt.

 

 

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