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Justiz im Nationalsozialismus

Anlässlich des Gedenkens an den ersten Häftlingstransport aus Wien in das KZ Dachau (1. April 1938) am 1. April 2016 auf dem Wiener Westbahnhof setzte sich Michael Schwanda (Leiter der Präsidialsektion im Bundesministerium für Justiz)  mit der Rolle der Justiz im NS-Staat auseinander; diese habe sich "auch in Österreich zu einem zentralen Werkzeug des Unrechtsstaates gemacht".

Künftig soll angehenden RichterInnen als obligatorischer Teil ihrer Ausbildung Grundlagenwissen zur Justizgeschichte insbesondere des 20. Jahrhunderts vermittelt werden.

 

Rede von Mag. Michael Schwanda (Bundesministerium für Justiz), Gedenkstunde der Arbeitsgemeinschaft der NS-Opferverbände, Wien Westbahnhof, 1. April 2016

 

 

Sehr geehrte Damen und Herren!

 

Als Leiter der Präsidialsektion im Bundesministerium für Justiz darf ich mich zunächst im Namen von Bundesminister Dr. Brandstetter für die Einladung zu dieser wichtigen Gedenkveranstaltung bedanken. Wie Sie wissen, ist Justizminister Dr. Brandstetter die Auseinandersetzung mit Fragen der Aufarbeitung des Nationalsozialismus ein besonderes Anliegen und er hätte daher sehr gerne an der heutigen Veranstaltung teilgenommen, ist aber wegen eines familiären Begräbnisses verhindert und hat mich daher gebeten, ihn heute zu vertreten. Ich bin dem sehr gerne nachgekommen, bietet diese Gedenkstunde doch Gelegenheit, zu den sich aus dem heutigen Anlass, dem Gedenken an den sogenannten "Prominententransport" in das Konzentrationslager Dachau am 1. April 1938, ergebenden Fragen aus Sicht des Justizressorts Stellung zu beziehen.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

 

Die Justiz versteht sich als Hüterin, ja als tragende Säule des Rechtsstaates.

 

In den zwölf Jahren des "tausendjährigen Reiches" hat das von den politischen Machthabern begangene Unrecht sukzessive auch die Justiz erfasst und die Justiz hat sich auch in Österreich zu einem zentralen Werkzeug des Unrechtsstaates gemacht. Dabei wurden viele elementare Rechtsgrundsätze, wie sie uns heute selbstverständlich sind, wie sie aber auch damals gegolten hätten, vollkommen außer Acht gelassen. Denken Sie nur an den Gleichheitssatz, das menschliche Leben als höchstes Gut, das Recht auf Eigentum und dessen Schutz, den Grundsatz, dass rassische oder politische Gründe weder Verfolgung noch Haft noch die Straflosigkeit von Verbrechen rechtfertigen können, dass Strafe Schuld erfordert, dass den Beweis der Täterschaft der Ankläger zu erbringen hat und dass es nur eine Unschuldsvermutung gibt, nicht aber das in dieser Zeit praktizierte Gegenteil einer "Schuldsvermutung".

 

Dabei entstand das sogenannte Dritte Reich auf den Fundamenten eines bürgerlichen Rechtsstaates: Die Weimarer Verfassung galt fort, die Ausübung staatlicher Gewalt blieb an Gesetze gebunden und die Anwendung der Gesetze kontrollierten unabhängige Gerichte. Deren Richter und Staatsanwälte – Frauen gab es damals in diesen Funktionen nicht – waren dort wie hier in vielen Fällen "davor", "währenddessen" und "danach" dieselben.

 

Trotzdem oder gerade deswegen hat eine fundamentale Auseinandersetzung mit der Rolle der Justiz im "Dritten Reich" erst relativ spät begonnen. Dafür dauert sie bis heute an.

 

Diese Auseinandersetzung betrifft das ebenso zeitlose wie erschreckende Phänomen, dass die Justiz als tragende Säule eines Rechtsstaats auch stehen bleiben kann, wenn sich der Rechtsstaat in einen Unrechtsstaat verkehrt. Die Justiz hat damals in wesentlichen Teilen auch den nationalsozialistischen Staat gestützt. Aus heutiger Sicht hat sie einen erheblichen Beitrag zu größtem Unrecht geleistet, ihre Aufgabe als Hüterin des Rechts nicht erfüllt.

 

Kritik an der Justiz wiegt schwerer als die in anderen staatlichen Angelegenheiten. Insofern mit Recht, als die Justiz ein gesteigertes Ansehen als friedensstiftender Faktor in zwischenmenschlichen Konflikten benötigt. Ihre Akte nehmen besondere Gültigkeit und Unabänderlichkeit in Anspruch. Rechtskraft hat etwas von Unfehlbarkeit, weil rechtskräftige Entscheidungen auch dann zu gelten haben und – auch zwangsweise – vollstreckt werden, wenn sie inhaltlich falsch wären.

 

Jene Distanz zu sich selbst zu gewinnen, die einen eigene Fehler erkennen lässt, fällt niemandem leicht. Besonders schwer muss dies aber jener Einrichtung und ihren Angehörigen fallen, die per definitionem Recht haben und Recht schaffen. Trotzdem lebt jede Rechtsentwicklung geradezu davon, sich mit der bisherigen Rechtsprechung kritisch und in einer gewissen Distanz auseinanderzusetzen.

 

Wie konnte sich mit Richtern, Staatsanwälten und Legisten, die ihr Handwerk im Umfeld eines bürgerlichen Rechtsstaats erlernt hatten, ein solches Unrechtsregime entwickeln?

 

Es steht außer Frage, dass die auch für sich genommen formal und inhaltlich zweifelhafte Gesetzgebung natürlich dazu beigetragen hat. An vielen Beispielen – und das ist das wahrhaft Erschreckende – lässt sich jedoch zeigen, dass die Rechtsprechung selbst das weiterhin unverändert geltende Recht in einer Weise ge- und missbraucht hat, die dem Regime bestmöglich diente. Dabei wurden die Routinen herkömmlicher Urteilsbegründung mit Feststellungen, Beweiswürdigung und rechtlicher Beurteilung in erschreckender Weise bis zuletzt eingehalten – das Unrecht in der Hülle des Rechts; der Dolch unter der Robe des Juristen, um eine Beschreibung aus dem Nürnberger Juristenprozess zu zitieren.

 

Dabei waren die meisten der dafür verantwortlichen Richter und Staatsanwälte nach Einschätzung vieler gar nicht unbedingt überzeugte Nationalsozialisten, sondern politisch farblose, oft ehrgeizige Beamte guter Qualifikation, die ihre Karriere im Sinn hatten. Den Kriegsdienst, der in aller Regel die einzige Sanktion dafür gewesen wäre, wenn sie den Dienst bei einem Sondergericht oder dem Volksgerichtshof verweigert hätten, wollten sie vermeiden.

 

Sie haben den Staat und das Recht, denen sie zu dienen gehabt hätten, mit dem herrschenden Regime und seinen Interessen gleichgesetzt. Was jenen Juristen im willfährigen Dienste einer Unrechtsjustiz jedenfalls gefehlt hat, war die Unabhängigkeit, vor allem jene von den eigenen Interessen, und jede Empathie für jene, die vor ihnen standen.  Und jedenfalls insofern reicht die Bedeutung des Themas weit über die Vergangenheit hinaus.

 

Dass die Auseinandersetzung noch nicht abgeschlossen ist, zeigt sich auch daran, dass – im Gegensatz zu Deutschland – bisher keine systematische wissenschaftliche Aufarbeitung der Karrieren von österreichischen Richtern und Staatsanwälten vor, während und nach dem Nationalsozialismus vorliegt. Seitens des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes wurden hier schon wichtige Vorarbeiten geleistet und ich möchte an dieser Stelle sagen, dass es Justizminister Dr. Brandstetter ein großes Anliegen ist, die noch ausstehenden Arbeiten zu unterstützen. Dies nicht nur finanziell, sondern vor allem auch durch eine unbürokratische Hilfestellung bei der Zugänglichmachung der entsprechenden Personal- und Justizverwaltungsakten.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

 

Als dritte Säule der Staatsgewalt befindet sich auch die heutige Justiz mit der ihr aufgetragenen Wahrung der Grundrechte oft in einem Spannungsfeld und steht gerade auch in heiklen Causen im Blickpunkt einer kritischen Öffentlichkeit.

 

Dabei ist es nicht allein Aufgabe der Strafgerichtsbarkeit, Recht und Unrecht zu vermitteln und durchzusetzen. Ganz ohne Frage ist die Vermittlung und Durchsetzung von Werten, ebenso wie von Recht und Unrecht, vielmehr die Aufgabe der Gesellschaft insgesamt und damit jedes ihrer Mitglieder in jeglicher Funktion.

 

Richtig ist allerdings, dass sich im Strafrecht und in der Strafverfolgung durch Staatsanwaltschaften und Gerichte die Gegensätze zwischen zulässig und unzulässig am schärfsten abbilden, da gibt es eben nur mehr schwarz und weiß, Einstellung oder Anklage, Verurteilung oder Freispruch.

 

Wie das Gericht bei seinem Urteil ist auch die Staatsanwaltschaft bei ihrer Einstellungsentscheidung gezwungen, Grenzen zu ziehen und ihre mehr oder weniger komplexen Erwägungen in diesem Sinn auf einen Punkt zu bringen, den Daumen zu heben oder zu senken. Oft sind diese Grenzziehungen sehr schwierig, weil es jenen, deren Verhalten es zu beurteilen gilt, geradezu darauf angekommen ist, ihre wahren Absichten zu verschleiern, die Grenzen des Zulässigen bis zum Äußersten auszureizen und in diesem Sinn die Gesellschaft und ihre Organe herauszufordern.

 

Die Folgewirkungen einer Entscheidung, ihre Aufnahme durch die Betroffenen und auch durch die Öffentlichkeit müssen dabei aber immer bedacht werden, ohne freilich die Entscheidung selbst dadurch beeinflussen zu lassen. Maßstab muss allein das Gesetz bleiben. Grenzen wirken immer nach beiden Seiten, ein auf der einen Seite eingeräumtes Recht nimmt man sich auf der anderen Seite. Da braucht es viel Augenmaß und Sensibilität und hohe Ansprüche werden an die Sorgfalt bei Form und Inhalt gestellt.

 

Unter erheblichem Arbeitsdruck sind täglich viele solcher Entscheidungen zu treffen. Da kann es vorkommen, dass das nicht in jedem einzelnen Fall einwandfrei und allgemein akzeptiert gelingt, denn niemand ist unfehlbar.  Immer wieder geben daher auch Einstellungsbegründungen und die mit ihnen verbundene Grenzziehung Anlass zu breiter öffentlicher Diskussion.

 

Öffentliche Diskussion von und Kritik an Entscheidungen der Gerichtsbarkeit sind in einer Demokratie notwendig und unverzichtbar. Sie schärfen den Verstand und erzwingen Reflexion als wesentliche Grundlage jeder Weiterentwicklung, denn dazu lernen kann und muss man immer.

 

Das gilt natürlich auch für die Justiz als Ganzes. Entscheidungen in einzelnen Verfahren sind stets und auch dann, wenn sie für verfehlt gehalten werden, Entscheidungen der Staatsanwaltschaft bzw. der Gerichte in ihrer Gesamtheit und damit auch aller Vorgesetzten, die gemeinsam gefordert sind.

 

Dies gilt insbesondere auch für die Aus- und Fortbildung, gerade was den Bereich der Zeitgeschichte betrifft.

 

Seit dem Jahr 2009 veranstaltet das Bundesministerium für Justiz in Kooperation mit der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz regelmäßig ein bundesweites Curriculum "Justizgeschichte" für angehende Richterinnen und Richter, das sich aus zwei dreitägigen Modulen zusammensetzt. Das erste Modul inkludiert einen Besuch der Gedenkstätte Am Spiegelgrund, das zweite Modul einen Besuch der Gedenkstätte Mauthausen, wobei beide Module von Vorträgen und Diskussionen begleitet werden.

 

Ziel dieses Curriculums ist es, den künftigen Richterinnen und Richtern, Staatsanwältinnen und Staatsanwälten empirisches Grundlagenwissen zur neueren Justizgeschichte mit Schwergewicht auf dem 20. Jahrhundert zu vermitteln, wodurch zur Sensibilisierung für politische Implikationen sowohl in zivil- als auch in strafrechtlichen Entscheidungen beigetragen werden soll.

 

Dieses Curriculum, an dem derzeit jeweils 30 RichteramtsanwärterInnen teilnehmen können, wird künftig ein obligatorischer Teil der Ausbildung werden. Mit der durch die vergrößerte Teilnehmerzahl erforderlichen Neukonzeption hat Bundesminister Dr. Brandstetter eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe beauftragt, bestehend aus Vertreterinnen und Vertretern der Wissenschaft und der Justiz, mit dem Ziel einer verstärkten Bewusstseinsbildung und Information der angehenden Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte. Daneben befindet sich in Kooperation mit der Wissenschaft auch eine Veranstaltung zum Thema des unmittelbaren Kriegsendes, insbesondere zur Befreiung der Konzentrationslager und zu den Verbrechen der SS in den letzten Kriegsmonaten in Vorbereitung.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

 

Wenn ich eingangs von der Beteiligung der Justiz im Allgemeinen und zahlreicher Repräsentanten im Einzelnen an der Errichtung und Aufrechterhaltung des nationalsozialistischen Unrechtsstaates gesprochen habe, so darf nicht vergessen werden, dass es auch in der Justiz zahlreiche Opfer des Nationalsozialismus gab, die aus rassistischen oder politischen Gründen verfolgt wurden, ihre Ämter verloren, zur Emigration gezwungen oder umgebracht wurden.

 

So bemächtigten sich unmittelbar nach dem "Anschluss" die österreichischen Nationalsozialisten der Justiz, besetzten ohne rechtliche Grundlage deren Spitzenpositionen und beglichen vielfach alte Rechnungen. Noch am 12. März 1938 trafen sich in Wien nationalsozialistische Juristen, um "die Rechtsanwaltskammer zu übernehmen und im Justizministerium nach dem Rechten zu sehen", und auch in weiterer Folge wurden zahlreiche Justizfunktionäre, Richter und Staatsanwälte ihres Amtes enthoben oder zum Rücktritt gezwungen, wie z.B. der damalige Präsident des Oberlandesgerichtes Wien Dr. Gustav Schuster, der Leiter der Staatsanwaltschaft Linz Dr. Ludwig Stronski oder auch der im Justizministerium für politische Strafsachen zuständige Staatsanwalt Dr. Josef Gerö. Er gehörte wie viele andere zu den Deportierten des 1. April 1938 und war nach 1945 der erste Justizminister der Zweiten Republik. Zu den vom NS-Regime Verfolgten gehörte auch der Justizminister der Jahre 1935 und 1936 und letzte Leiter der Generalprokuratur vor dem sogenannten Anschluss Dr. Robert Winterstein. Er reichte am 12. März 1938 seine Pensionierung ein, wurde am 15. März 1938 verhaftet und im November 1938 in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert, wo er im April 1940 ermordet wurde.

 

Ihnen allen, meine sehr geehrten Damen und Herren, allen Opfern von Gewalt, Vertreibung und Ermordung – und heute insbesondere den Deportierten des 1. April 1938 – gilt gemeinsam mit den auch heute anwesenden Angehörigen und den ihnen freundschaftlich Verbundenen unser ehrendes und fortwährendes Angedenken, das ich mit den Worten von Richard von Weizsäcker aus seiner Rede vor dem deutschen Bundestag am 8. Mai 1985 abschließen möchte:

 

"Lassen wir uns nicht hineintreiben in Feindschaft und Hass,
lernen wir, miteinander zu leben, nicht gegeneinander,
ehren wir die Freiheit,
arbeiten wir für den Frieden,
halten wir uns an das Recht,
dienen wir unseren inneren Maßstäben der Gerechtigkeit,
schauen wir, so gut wir es können, der Wahrheit ins Auge."

 

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

 

 

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