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Marie Landskorn

Bericht von der Buchpräsentation am 29. Oktober 2025

Am 29. Oktober 2025 präsentierte Martin Prinz im Rahmen der Veranstaltung „Literatur am Ring“ seinen Roman „Die letzten Tage“ im Lesesaal der Parlamentsbibliothek. Im Anschluss diskutierte er mit der Stellvertretenden DÖW-Leiterin Claudia Kuretsidis-Haider und Holger Böck von der Bibliothek und dem Archiv des österreichisches Parlaments über die österreichische Nachkriegsjustiz. Die Lesung im Parlament widmete der Schriftsteller Marie Landskorn. Seine Würdigung können Sie hier nachlesen:


(Martin Prinz, 28.10.2025)


Meine Lesung im Österreichischen Parlament soll einer bis heute verschwundenen Frau gewidmet sein. Ihr Name ist Marie Landskorn. Sie war 34 Jahre alt, als sie in der Nacht vom 23sten auf den 24sten April 1945 in Reichenau an der Rax verhaftet worden war. In dieser Nacht musste sie gewusst haben, dass sie im Unterschied zu vorigen Festnahmen nicht mehr zurückkehren würde: „Meine Mutter nahm Abschied von mir und gab mir ihren Ehering“, schrieb ihre damals 14-jährige Tochter Leopoldine Jahrzehnte später über diese Nacht auf. Ihre Schwester Ida habe sich brüllend an die Mutter geklammert, während sie zu erschüttert gewesen sei, mit der Mutter zum Lastwagen hinauszugehen.


Unter all den in diesen Stunden zusammengetriebenen Menschen, fast ausnahmslos Frauen, die man daraufhin in Prein an der Rax in einen niedrigen, engen Keller sperrte, war Marie Landskorn die mit Abstand jüngste gewesen. Sie hatte sich nach Aussage mehrerer Zeugen zwei Tage später nicht unter den letzten sechs Frauen befunden, die aus dem Keller über die Straße in den Keller eines Hotels gebracht wurden, wo 15- bis 16-jährige Hitlerjungen die Frauen eine nach der anderen erschossen hatten; laut Zeugen mit den Waffen in der einen und Marmeladebroten in der anderen Hand.


All die Leichen fand man in den Wochen und Monaten nach Kriegsende. Marie Landskorn nicht. Die Kinder warteten. Die 14-jährige Leopoldine, der 13-jährige Heinrich, die 11-jährige Elisabeth, die 9-jährige Ida. Käme die Mutter wirklich nicht mehr zurück, wären sie Vollwaisen, nachdem man den Vater bereits zwei Jahre davor von einem fahrenden Zug gestoßen hatte, da beide Eltern im Widerstand gewesen waren, weshalb auch die Kinder, wie etwa Heinrich, von der Gestapo verhört und den Eltern zeitweise weggenommen worden waren. 


Marie Landskorn wurde weder unter den Toten in den Gruben gefunden, die in diesen Nächten in Reichenau, Prein und Schwarzau ausgehoben wurden, noch kam sie zurück. Es kam nur ein Brief, wie sich ihre älteste Tochter Leopoldine (und spätere Leopoldine Watts) während ihrer Recherchen im Jahr 1995 in einem Gedächtnisprotokoll erinnerte. Dieses Protokoll las ich diesen Sommer. Es hatte sich in Leopoldines Nachlass in England befunden. Ich selbst bekam es von der Tochter ihres Bruders Heinrich, einer Enkelin, die meinen Roman „Die letzten Tage“ sofort nach dessen Erscheinen gelesen hatte. Seitdem befinden wir uns, die Enkelin Marie Landskorns und ich, in regelmäßigem Austausch, aber auch die unterschiedlichen Familienzweige der Nachkommen Marie Landskorns, die aufgrund ihres Schicksals 80 Jahre kaum bis keinen Kontakt zueinander gehabt hatten, fanden wieder zueinander.


„In den ersten Jahren nach 1945 hoffte ich sogar, dass unsere Mutter zurückkommt“, schrieb Leopoldine Watts im Jahr 1995 im Londoner Stadtteil Wimbledon nieder. Und erinnerte sich, sie habe damals einen Brief bekommen, „als wäre er von der Mutter geschrieben, ‚dass es ihr gut gehe und sie wäre in Nasswald‘.“ Nach Nasswald, die kleine protestantische Gemeinde hinter dem Höllental, führte sie im Jahr 1995 aber nicht nur die Erinnerung an diesen Brief, der von den Behörden nach dem Krieg lediglich als „Streich“ klassifiziert worden war, sondern der Name eines Mannes, der sich zu diesem Zeitpunkt nicht erst einmal als Mörder ihrer Mutter Marie Landskorn zu erkennen gegeben hatte.


Das erste Mal hatte dieser Mann nur wenige Jahre nach dem Krieg schon laut und in der Öffentlichkeit von sich selbst als Täter gesprochen. Die eigene Großmutter, Marie Landskorns Mutter, habe Leopoldine davon in Briefen 1952/53 nach England berichtet, da Ida, die sich bei der Festnahme der Mutter als neunjähriges Kind schreiend an die Mutter gehängt hatte, als nunmehr 17-Jährige ihren Dienst in einem Gasthaus in Nasswald überhastet hatte beenden müssen, da sie dort von einem Gast belästigt worden war, der währenddessen vor allen anderen behauptete, er habe 1945 mit einem anderen eine Frau, die genauso wie Ida ausgesehen habe, mit Kopfschüssen getötet und mit Steinen erschlagen habe, „da sie nicht sterben wollte.“ Als daraufhin an der von ihm angegeben Stelle eine Frauenleiche gefunden wurde, habe man jedoch der zur Identifizierung gerufenen Großmutter seitens der Gendarmerie geraten, auf eine derartige Feststellung zu verzichten und ihr danach verboten, weiter davon zu sprechen.


Der Name dieses Mannes sollte 1995 erneut auftauchen, da sich eine andere im Gasthaus Bedienstete nicht nur genau an die Belästigung wie an die lauthals erzählte Geschichte von der Bluttat erinnerte, sondern auch an den Namen des Mannes, der immer noch in der Ortschaft Nasswald lebte. Dieser Mann hatte nicht nur in den frühen 1950er-Jahren von der Tat erzählt, die er angeblich mit einem zweiten begangen habe, sondern in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre noch einmal. Denn er war, wie Leopoldine Watts 1995 erfuhr, an Krebs erkrankt und hatte befürchtet, er müsse sterben. Deshalb vertraute er sich einer Frau in Payerbach an, die Leopoldine ebenfalls kannte, da sie eine Freundin ihrer Mutter Marie gewesen war und später die Großmutter gepflegt habe. Als Leopoldine diesen Mann aufgrund der von dieser Frau gemachten Angaben biografischer Details, die sich vollständig mit jenen des Mannes aus Nasswald deckten, bei den Behörden anzeigte, zog die Frau aus Payerbach nicht nur ihre Angaben über den Mörder zurück, sondern bestritt sogar, je ein Gespräch mit Leopoldine Watts geführt zu haben. Ebenso wie es alle anderen taten, die damals mit Leopoldine über diesen Mann gesprochen hatten. 


Leopoldine, Heinrich, Elisabeth und Ida wuchsen bei Pflegefamilien auf. Um zumindest geringe staatliche Zuschüsse zu erhalten, brauchte es aber eine Sterbeurkunde der Mutter, weshalb sie Marie Landskorn im Jahr 1955 für tot erklären lassen mussten, während irgendjemand in Nasswald sogar noch die Chuzpe gehabt hatte, den Kindern einen fingierten Brief der Mutter zu schicken.


Bis heute unbekannt geblieben ist, wo die aufgrund der Geschichte im Wirtshaus gefundenen sterblichen Überreste damals begraben worden waren. Seitdem Leopoldine Landskorn vulgo Watts dem Verschwinden und Tod ihrer Mutter ebenso wie den Geschichten über ihren Mörder nachgegangen war, galt auch die Gendarmeriechronik des zuständigen Postens Schwarzau als verschollen. Genauso wie es alle weiteren Spuren zum Mörder Marie Landskorns inklusive seines Namens geblieben wären, hätte ihre Wiener Neustädter Enkelin am 27. Februar 2025 nicht den Mut besessen, ein Buch aufzuschlagen, in dem ein Fremder aufgrund von Akten vom Verschwinden ihrer Großmutter erzählte.


Heute ist Marie Landskorn nicht mehr verschwunden. Ganz unabhängig davon, ob die von ihrer Enkelin erneut zusammen getragenen Spuren in Abgleich mit der Recherche des Fremden doch noch einen Hinweis darauf ergeben, wo man sie letztlich begraben hat. Sie ist nicht mehr verschwunden, da ihre Familie nach all der Zeit wieder über sie spricht und wieder miteinander spricht.


Das ist es, was bleibt, so notiere ich es, der Fremde hier: Das eine ist das Geschehene, das andere das Erzählen. Das wirklich Lebendige ist, wenn sich Menschen darüber austauschen, die dies viel zu lange nicht taten oder einander bis dahin noch gar nicht gekannt hatten.


So blicke ich im Schreiben dieser Zeilen auf das kleine Portraitfoto, das mir ihre Enkelin in einem der ersten unserer E-Mails geschickt hatte. Darin eine Frau mit hochgeschwungenen Augenbrauen, einem offenen, neugierigen und genauen Blick. Ihr Mund leicht geöffnet, als hätte sie gerade etwas gesagt, oder würde gleich damit beginnen.


Tun wir es auch – im Namen Marie Landskorns. Nicht nur am 29.10.2025 im Parlament, nicht nur jetzt in diesen Zeilen. Teilen wir ihre Geschichte in jedem Moment, in dem nicht nur die Erinnerung, sondern das eigene Leben, der eigene Alltag und die politischen Fragen unserer Zeit dies so notwendig von uns verlangen.

Marie Landskorn
Geboren am 18. Juni 1910 in Schmidsdorf, zuletzt wohnhaft in Reichenau, Jägerzeile 2. 
Eine Frau, für die „gemäß § 21 (7) Todeserklärungsgesetz der 26.4.1945 als jener Tag bestimmt“ werden musste, den sie nicht überlebt habe, doch in jedem Augenblick weiterlebt, in dem Menschen für ihr Leben einstehen.

 

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