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Vida Bakondy: Montagen der Vergangenheit

Flucht, Exil und Holocaust in den Fotoalben der Wiener Hakoah-Schwimmerin Fritzi Löwy (1910-1994)

Dissertation, Universität Wien, 2015 (Abstract)

 

Diese Arbeit wurde mit dem Herbert-Steiner-Preis 2016 ausgezeichnet.

 

 

Gegenstand der Dissertation bilden visuelle Zeugnisse und Erinnerungspraktiken nach dem Holocaust am Beispiel der Hinterlassenschaft der international erfolgreichen Wiener Hakoah-Schwimmerin Fritzi Löwy (1910-1994). Fritzi Löwy, die der nationalsozialistischen Verfolgung entkam, stellte nach ihrer Rückkehr aus dem zehnjährigen Exil zwei Fotoalben her, die der Erinnerung an ihre eigene Flucht sowie dem Gedächtnis von Familienmitgliedern und Freunden und Freundinnen gewidmet waren, die im Holocaust ermordet wurden oder durch ihr Exil über die ganze Welt verstreut waren. Ausgehend von diesem Nachlassfragment werden Möglichkeiten und Grenzen von Fotoalben als historische und biographische Quellen sowie als spezifisches Erinnerungsmedium in Bezug auf Fragen zur Darstellung des Holocaust und von Exil diskutiert.

 

Die Analyse der Fotoalben findet vor dem Hintergrund einer erstmaligen umfassenden wissenschaftlichen Bearbeitung der Hinterlassenschaft von Fritzi Löwy statt, die durch aufwendige Recherchen in Europa, Australien und den USA zusammengetragen und für die Zukunft gesichert werden konnte. Ein Abschnitt der Arbeit fokussiert daher auf die vorhandenen Quellen zu Fritzi Löwy und zeichnet die Orte, Wege und Bedingungen der Archivierung und Überlieferung von Nachlassfragmenten nach. Inspiriert durch methodische Ansätze aus dem Bereich der Mikrogeschichte, der feministischen Biographietheorie und den Kulturwissenschaften werden die Grenzen des Materials – ihrer historischen Aussagekraft, die vielen Lücken, Brüche und Leerstellen – anerkannt, in die Erzählung integriert und nach ihren erkenntnistheoretischen Implikationen gefragt. Am Beispiel von Löwys Hinterlassenschaft lässt sich eine Reihe historischer Bedingungen identifizieren, die Nachlässe hervorbringen und auch als das Ergebnis von individuellen Interessen und Handlungen ausweisen. Eine entscheidende Bedingung für die Tradierung von Nachlassfragmenten spielte Löwys Berühmtheit als Schwimmerin des S. C. Hakoah Wien in den 1920er- und 1930er-Jahren. Hinzu kommen als weitere Voraussetzungen einer Überlieferung Konjunkturen des Interesses im Bereich der wissenschaftlichen Forschung und der Öffentlichkeit an jüdisch-österreichischer Geschichte, an jüdischer Sportgeschichte sowie auch an Selbstzeugnissen zur NS-Verfolgung und zum Holocaust.

 

Dadurch, dass Fritzi Löwys Alben mit ihrem Tod dem individuellen Erinnerungsrahmen entrissen wurden und die damit verknüpften Erzählungen verloren gegangen sind, bedurfte es der Entwicklung einer spezifischen Lektürestrategie, um die Alben lesbar zu machen. Dazu zählen der Einbezug der Rückseite der Bilder in die Analyse und die Kontextualisierung mit weiteren Materialien aus Löwys Hinterlassenschaft sowie mit vorhandenen Archivquellen. So verweisen etwa die spärlich überlieferten Albumpraktiken Fritzi Löwys aus der Vorkriegszeit darauf, dass Löwy für ihre Erinnerungsarbeit auf ein bewährtes Ordnungs- und Speichermedium zurückgegriffen hat. Für meine analytische Zugangsweise bzw. meine methodischen Überlegungen war dabei die Verbindung kulturwissenschaftlicher und geschichtswissenschaftlicher Forschungsansätze von Relevanz. Damit kann aufgezeigt werden, dass sich eine inhaltliche Analyse von Löwys Alben, deren Struktur als Trägermedium und die Frage, was einzelne Seiten und Bilder wie zeigen, fruchtvoll mit der Frage nach dem historischen Kontext verbinden lassen, in dem die Alben und einzelne Bilder entstanden sind bzw. der sie hervorbrachte. Denn durch die Rekonstruktion des historischen Umfeldes einzelner Bilder sowie der Alben als Ganzem lässt sich erst im Detail ersehen, was die darin versammelten Bilder und Geschichten repräsentieren. So gleicht Löwys Erinnerungsalbum an ihre Zeit als Geflüchtete in der Schweiz der Jahre 1944 und 1945 (Schweiz-Album) auf der Mehrzahl der Albumseiten einer harmlosen Urlaubsdokumentation, die mit der Geschichte von Flucht und Exil, die darin ebenfalls erzählt wird, auf den ersten Blick unvereinbar scheint. Die Hinzuziehung von Löwys polizeilichem Flüchtlingsdossier, von Passagen aus einem lebensgeschichtlichen Interview oder aber von Dokumenten aus ihrer persönlichen Hinterlassenschaft entfaltet mehrere Bedeutungsschichten, die sich hinter einzelnen Fotos oder den touristischen Ansichten im Album verbergen. Die Montage verschiedener Quellen und das Herstellen von Beziehungen durch verschiedene narrative Strategien ist ein Darstellungsmittel, das auch Fritzi Löwy in den Alben wählte, indem sie unterschiedliche visuelle Materialien und Fragmente neu zusammensetzte und mit Texten kommentierte.

 

Die Analyse von Fritzi Löwys Alben zeigt schließlich auf, wie sich die Dokumentation der NS-Verfolgung und ihrer Folgen in der gewählten Bildsprache manifestiert. Die Tatsache, dass die Schweiz für Fritzi Löwy im Mai 1944 den letzten Zufluchtsort vor der NS-Verfolgung bedeutete, kommt meiner Ansicht nach auch in den Darstellungsstrategien zum Ausdruck. So sticht das Schweiz-Album durch seinen bunten, lebhaften Charakter, die Dokumentation der "schönen Seiten" der Schweiz und die Fülle verwendeter Materialien (Postkarten, Fotografien, Briefmarken, Ausschnitten aus Tourismusbroschüren etc.) hervor, während Fritzi Löwys der Familie gewidmetes Album durch die Kargheit des darin versammelten Materials und die Dominanz von Schwarz-Weiß-Aufnahmen charakterisiert ist. In gewisser Hinsicht gleicht das Familienalbum einer Ruine, indem Löwy versammelt, was von der Großfamilie Löwy nach 1945 zurückgeblieben ist: einige wenige Fotografien aus der Zeit davor, vor dem Holocaust, von verstorbenen und vom NS-Regime ermordeten Angehörigen, und einige wenige Fotografien derjenigen, die überlebt haben, in Wien und im Exil.

 

"... Ich kann es nicht verarbeiten, ich kann es nicht verkraften", so versuchte Fritzi Löwy die persönlichen Konsequenzen der NS-Verfolgung für ihr Leben in einem lebensgeschichtlichen Interview aus dem Jahr 1988 in Worte zu fassen. Ihre Alben stellen einen Versuch dar, diesen traumatischen Folgen Ausdruck zu verleihen und sie festzuhalten. Sie dokumentieren individuelle Verarbeitungsmechanismen, an ihnen lässt sich aber auch die geschichtspolitische Dimension privater Erinnerungspraxen aufzeigen. Fritzi Löwys Alben schaffen neue Erzählungen im Bereich des (visuellen) Gedächtnisses über Flucht, Exil und den Holocaust und damit in Verbindung auch ein neues Bilderrepertoire für die Geschichte. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass hinsichtlich der im kollektiven Gedächtnis verfügbaren bzw. aufgerufenen Bilder der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen Österreich und Deutschland betreffend nach wie vor die nachhaltige Tradierung einer Vielzahl an "Täterbildern" konstatiert wird, sind Löwys Alben aber auch als ein visueller Gegenentwurf bedeutsam.

 

Mit der Analyse von Fritzi Löwys Alben leistet die Dissertation einen Beitrag zur Integration von privaten Alben als Untersuchungsgegenstand für die Analyse individueller Verarbeitungsmechanismen der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen und ihrer Folgewirkungen und konstituiert sie als Gegenstand historischer Forschung bzw. "deutbaren Stoff der Geschichte".

 

Vida Bakondy, Historikerin, derzeit Mitarbeiterin im Wien Museum, Durchführung eines Projekts zur jugoslawischen Diaspora im Wien der 1990er-Jahre

 

 

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