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Tanja von Fransecky: Flucht von Juden aus Deportationszügen in Frankreich, Belgien und den Niederlanden

Dissertation, Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, 2012 (Abstract)

 

Diese Arbeit wurde mit dem Herbert-Steiner-Förderpreis 2013 ausgezeichnet.

 

 

Vor einigen Jahren lernte ich den jüdischen Überlebenden Simon Gronowski kennen. Er war im April 1943 als 11-Jähriger mit Hilfe seiner Mutter aus dem 20. Deportationszug, der ihn vom Sammellager Mechelen in Belgien nach Auschwitz bringen sollte, gesprungen. Den Absprung aus dem Zug hatte er gemeinsam mit anderen Kindern vorher geübt. Viele Male waren sie in Mechelen von den dreistöckigen Hochbetten gesprungen. Bis der 20. Deportationszug die deutsche Grenze erreichte, waren insgesamt 232 Gefangene aus den Waggons geflohen.

 

Diese Fluchtgeschichte hat bei mir die Frage aufgeworfen, ob es sich bei diesen Fluchten um einen einmaligen Fall gehandelt hat oder ob es solche Fluchten öfter gegeben hat, ob es sich vielleicht sogar um ein Phänomen größeren Ausmaßes gehandelt hat. Dieser Frage bin ich in meiner Dissertation zu Fluchten jüdischer Deportierter aus Frankreich, Belgien und den Niederlanden nachgegangen.

 

Die verwandten Quellen habe ich im Rahmen von Archivstudien in Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Israel und Deutschland gesichtet und ausgewertet. In diesen Ländern führte ich zudem 14 Interviews mit Überlebenden, davon neun Zugflüchtlingen.

 

Nur wenige Holocaust-Überlebende haben die Verzweiflung der Deportierten und das Sterben in den Waggons in deutliche Worte gefasst. Die extrem belastenden Situationen in den Waggons und die schockierende Erfahrung, unter derart entwürdigenden Umständen abtransportiert worden zu sein, mögen dazu geführt haben, dass in vielen Erinnerungsberichten die Deportation eher kurz oder verklausuliert erwähnt wird. Die Fluchten sind Teil der schrecklichen Erlebnisse in den Deportationszügen und waren in der Regel mit moralisch-ethischen Dilemmata verbunden. Äußerst wirkmächtig war die regelmäßig vor dem Besteigen der Deportationszüge an alle gerichtete Drohung, falls jemand aus ihrem Waggon bei der Ankunft fehle, würden alle anderen zur Strafe erschossen. Dieser Topos fehlt fast in keiner Fluchtgeschichte. Sehr häufig wird berichtet, dass sich aufgrund der Erschießungsandrohung Panik breitgemacht habe und es in den Waggons zu heftigen Auseinandersetzungen kam, wenn jemand fliehen wollte. Für viele überlebende Zugflüchtlinge war es sicherlich eine moralische Last, die Flucht gewagt zu haben und dabei die Zurückbleibenden verlassen und möglicherweise gefährdet zu haben.

 

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Studie u. a. zur Erforschung einer bislang von der Täterforschung ausgeklammerten Tätergruppe beiträgt: der Wachmannschaften der Deportationszüge. Zudem wurde im Rahmen dieser Studie die quantitative Dimension der Fluchten ermittelt. Für Frankreich konnte ich 155 Fluchten feststellen, für Belgien 577 und für die Niederlande lediglich 29. Diese deutlich unterschiedlichen Zahlen sind, insbesondere da sie nicht mit den Deportationsraten in den Ländern korrelieren, erklärungsbedürftig. Deshalb habe ich situationsübergreifende strukturelle Faktoren, die Fluchten ermöglichten oder behinderten, identifiziert sowie situative Strategien und Gründe, die im Waggon entscheidend waren für den Entschluss, Fluchten zu unternehmen oder sie abzuwenden.

 

Tanja von Fransecky: Sozialwissenschaftlerin, Berlin

 

 

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