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Julia Hörath: Experimente zu Kontrolle und Repression von Devianz und Delinquenz

Die Einweisung von "Asozialen" und "Berufsverbrechern" in die Konzentrationslager 1933 bis 1937/38

Dissertation, FU Berlin, 2012 (Abstract)

 

Diese Arbeit wurde mit dem Herbert-Steiner-Preis 2013 ausgezeichnet.

 

 

Neben politischen Häftlingen, Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen und Zeugen Jehovas litten in den frühen nationalsozialistischen Konzentrationslagern auch Menschen, die die Verfolgungsbehörden als "Asoziale" und "Berufsverbrecher" ("BVer") gebrandmarkt hatten. Bei den "BVern" handelte es sich um Mehrfachstraftäter, die zumeist aufgrund von Kleinkriminalität und Eigentumsdelikten vorbestraft waren, denen man zum Zeitpunkt der KZ-Einweisung aber keine Straftat nachweisen konnte. Unter der Sammelkategorie "Asoziale" erfassten die Behörden neben Bettlern, Landstreichern, Zuhältern und Prostituierten auch Alkoholiker, sogenannte "säumige Unterhaltszahler", "Unterstützungsbetrüger", "Arbeitsscheue", fahrende Gewerbetreibende, Hausierer und mitunter sogar Wander- und Saisonarbeiter.

 

Die NS-Forschung hat die "asozialen" und "kriminellen" KZ-Häftlinge lange vernachlässigt. Frühere Untersuchungen richteten ihr Interesse auf die Repressionen der Fürsorgebehörden jenseits der KZ-Haft sowie auf die drei großen Massenrazzien – auf die Kripo-Aktion gegen "BVer" im März 1937 und auf die beiden Wellen der "Aktion Arbeitsscheu Reich" im April und Juni 1938 –, im Zuge derer über 10.000 Menschen in die Konzentrationslager eingeliefert wurden (Wolfgang Ayaß, Thomas Roth, Patrick Wagner). Infolge dieser Razzien verschlechterte sich die Lebenssituation der KZ-Insassen drastisch; "Asoziale" und "BVer" bildeten zeitweilig die beiden größten Häftlingsgruppen. Der in der KZ-Forschung dominierende Ansatz zur Erklärung der Entwicklungsgeschichte der Lager, das sogenannte "Stufenmodell" (Michael Wildt), hat die Massenrazzien bislang als Resultat eines Mitte der 1930er-Jahre vom Führungskorps der Gestapo, SS und Kriminalpolizei ersonnenen Konzepts zur "rassischen Generalprävention" (Ulrich Herbert) interpretiert, das zu einem grundlegenden Funktionswandel der Konzentrationslager geführt habe. Bis dahin sei KZ-Haft gegen "Asoziale" und "BVer" nur in Einzelfällen verhängt worden.

 

Der Untersuchung liegt die These zugrunde, dass die NS-Konzentrationslager von Beginn an auch dem sozialrassistischen Umbau der Gesellschaft dienten. Gefragt wird erstens nach den für die KZ-Einweisung von "Asozialen" und "BVern" verantwortlichen Akteuren, zweitens nach deren jeweiligen Zielsetzungen und drittens nach dem Ausmaß sozialrassistischer KZ-Haft vor 1937/38. Die Studie stützt sich auf eine breite und heterogene Quellenbasis. Sie kombiniert Methoden der Politikfeldanalyse mit hermeneutischen, biographischen, statistischen und diskursanalytischen Verfahren.

 

Die Untersuchung zeigt, dass die ersten sozialrassistischen KZ-Einlieferungen gleich nach Errichtung der Lager erfolgten. Bereits im ersten Jahr der NS-Herrschaft gingen sie über Einzelfälle hinaus und erreichten spätestens mit der "Bettlerrazzia" im September 1933 eine gewisse Systematik. Basierend auf dem badischen "Vorbeugungshafterlass" vom 9. März 1934 durchliefen beispielsweise mehrere hundert "Asoziale" und "BVer" das KZ Kislau (1933–1939) und im KZ Dachau zählten schon 1934/35 zeitweise rund 30 bis 40 Prozent der Häftlinge zu diesen beiden Gruppen. Initiiert und getragen wurde die sozialrassistische Haftpraxis zunächst von lokalen bzw. regionalen Akteuren des Staats- und Verwaltungsapparates, die überwiegend noch unter demokratischen Vorzeichen in der Weimarer Republik ausgebildet worden waren. Sie handelten dabei in Eigenverantwortung, ohne zentrale Steuerung. Die Vielzahl der involvierten Akteure führte zu einer überaus heterogenen Ausgestaltung der Verfolgungspraxis. Gestützt auf Konzepte und Begründungszusammenhänge, die noch aus der Zeit vor 1933 – aus den Debatten über die Strafrechtsreform und das "Bewahrungsgesetz" – stammten, nutzten die Verantwortlichen den Handlungsspielraum, den das NS-Regime geschaffen hatte, um ihre je eigenen Visionen einer "rassisch" und sozial homogenen "Volksgemeinschaft" ins Werk zu setzen.

 

Die Studie leuchtet die Kontinuitäten der Repressionen, die sich gegen die als "Asoziale" und "BVer" stigmatisierten Personengruppen richteten, ebenso aus wie die Zäsuren in der Entwicklung. Sie lenkt das Forschungsinteresse auf die "Durchschnittstäter" (Christian Gerlach) aus dem Bereich des "Normenstaates" und analysiert die "maßnahmenstaatlichen" Züge (Ernst Fraenkel), die deren Agieren unter den Bedingungen des NS-Regimes annahm. Es handelt sich um eine der ersten Untersuchungen über die Vorkriegskonzentrationslager, die mehr als eine Häftlingsgruppe in den Blick nimmt und die sich darüber hinaus nicht auf ein Lager beschränkt, sondern Terrorstätten im gesamten Reichsgebiet berücksichtigt. Ausgehend von den Befunden über die erste Phase sozialrassistischer Haftpraxis unter dem NS-Regime (1933 – 1937/38) stützt die Studie die Kontinuitätsthese von Günter Morsch und Falk Pingel, die besagt, dass alle wichtigen Funktionen der Konzentrationslager bereits 1933 angelegt waren. Damit bildet sie eine wichtige empirische Grundlage für eine Neuinterpretation der KZ-Entwicklungsgeschichte jenseits des bislang dominierenden "Stufenmodells".

 

Julia Hörath: Politikwissenschaftlerin, Berlin

 

 

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