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Alexa Stiller: Germanisierung und Gewalt

Nationalsozialistische Politik in den annektierten Gebieten Polens, Frankreichs und Sloweniens, 1939-1945

Dissertation, Universität Bern, 2015 (Abstract)

 

Diese Arbeit wurde mit dem Herbert-Steiner-Preis 2016 ausgezeichnet.

 

 

Die Studie hat den Versuch der Nationalsozialisten zum Gegenstand, die annektierten Gebiete Polens, Frankreichs und Sloweniens während des Krieges mittels eines großflächigen Austauschs der Bevölkerung sozusagen "einzudeutschen". Dieser Aspekt der nationalsozialistischen Politik wurde bislang eher randständig erforscht, meine Dissertation ist die erste umfassende vergleichende Studie der sogenannten "Volkstumspolitik". Der vergleichende Ansatz als originäre neue Perspektive zeigt als ein wichtiges Ergebnis auf, dass das Vorgehen des nationalsozialistischen Besatzungsregimes – vor allem in Hinblick auf die Deportation und Vertreibung von Einheimischen in den annektierten Gebieten im Osten wie auch im Westen und Südosten des "Großdeutschen Reiches" in ihrer Intensität vergleichbar war: So deportierten und vertrieben die Nationalsozialisten in Westpolen, im Elsass und Lothringen sowie in den annektierten Gebieten Sloweniens einen annähernd gleich hohen Prozentsatz der einheimischen Bevölkerungen (11 bis 15 Prozent). Entgegen der bisherigen Annahmen über die Okkupationspolitik in Westeuropa war diese nicht weniger gewalttätig und auf Verdrängung der ansässigen Bevölkerung ausgerichtet als im Osten und Südosten Europas.

 

Meine Doktorarbeit gibt darüber hinaus in weiteren Aspekten der Forschung neue Impulse: In Bezug auf die Frage nach dem Konnex zwischen dem Massenmord an den Juden und Jüdinnen in den sogenannten "eingegliederten Ostgebieten" (dem annektierten Westpolen) und der Volkstumspolitik komme ich zu einem neuen, differenzierten Ergebnis: Die massenhafte Ansiedlung von "Volksdeutschen" in Westpolen stand zwar in keinem kausalen Zusammenhang mit der Ermordung der polnischen Juden, sie trieb aber sehr wohl deren Vertreibung und Ghettoisierung voran – zum Zweck der "Platzschaffung". Anders als Götz Aly behauptet, verursachte die Volkstumspolitik den Holocaust nicht direkt, sie trug aber dazu bei, eine Situation zu generieren, welche die Entscheidung zum Massenmord begünstigte. Die Verfolgung der Juden und Jüdinnen steht aber jenseits dieses eher kontingenten "funktionalen" Zusammenhangs nur auf der allgemeinsten ideologischen Ebene (dem rassistischen "Reinheitswahn" der Nationalsozialisten) in einer direkten Beziehung.

 

Meine Frage nach den nationalsozialistischen Kriterien des "Deutschseins" und damit der Konstruktion der nationalen Gemeinsamkeit führte zudem zu einer Korrektur der gängigen Sichtweise auf die NS-Politik. Die Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung von "unerwünschten" Bevölkerungsgruppen in den annektierten Gebieten komplementierten die Nationalsozialisten nicht nur mit der Ansiedlung von "Volksdeutschen", sondern auch mit einer Selektion der einheimischen Bevölkerung; sie versuchten, klare Kriterien für die Differenzierung von "erwünschten" (in der Regel "deutschstämmigen") und "unerwünschten" Personen ("fremden Blutes") zu erarbeiten. Diese Konstruktionen stießen in der Praxis allerdings schnell an ihre Grenzen, das "Deutschsein" einer Person war eine durchaus fließende multidimensionale Kategorie, auch wenn Nationalisten und Rassisten dies trotz gegenteiliger Erfahrungen in der Selektionspraxis nicht wahrhaben wollten. Letztendlich gelang es den Nationalsozialisten zwar, die einheimische Bevölkerung in "erwünschte" und "unerwünschte" Personen zu unterteilen – doch dieses Resultat war kein stabiler Zustand, sondern ein offener Prozess. Wer bei einer ersten Selektion(sstufe) ausgewählt worden war, konnte bei der nachfolgenden bereits wieder aussortiert werden. Während die "negative" Selektion erst mit dem Tod endete, war das "Dritte Reich" strukturell so angelegt, dass ein abschließendes Ende der "positiven" Selektion nicht definiert war.

 

Ein viertes zentrales Ergebnis meiner Arbeit beleuchtet die Funktionsweise des NS-Systems auf der Akteursebene neu. Die dezidierte Rekonstruktion des Zusammenspiels der staatlichen und semi-staatlichen Stellen sowie der Konflikte zwischen ihnen und eine genauere Analyse der Strukturen und Prozesse bezüglich der Delegation von Verantwortung innerhalb der Hierarchien führt zu einem Bild, welches jenseits der gängigen Chiffren "Führerstaat" versus "Polykratie" den volkstumspolitischen Apparat im Vergleich zu rezenten Strukturen in Politik und Verwaltung als durchaus "modern" und effizient erscheinen lässt. Anhand dieser (auch nach heutigen Maßstäben) ausgeprägten "Normalität" des Verwaltungshandelns könnte man auch (Hannah Ahrendt paraphrasierend) von einer "Effizienz des Bösen" sprechen.

 

Alexa Stiller, Historikerin, derzeit Assistentin (postdoc) am Lehrstuhl für Zeitgeschichte in globaler Perspektive, Historisches Institut, Universität Bern

 

 

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