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Kein "Weltanschauungskrieg", sondern ein Vernichtungskrieg

Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion

Winfried R. Garscha

Tätigkeitsbericht 1. SS-Brigade 

Aus dem Tätigkeitsbericht der 1. SS-Brigade, 6. August 1941

 

 

Am 22. Juni 1941 begann die Deutsche Wehrmacht den seit vielen Monaten vorbereiteten Krieg gegen die Sowjetunion. Im Zuge dieses Krieges erreichte auch die nationalsozialistische Judenverfolgung eine neue Qualität: In den eroberten Gebieten der Sowjetunion wurde mit der systematischen Massenvernichtung begonnen, die 1942 auch auf die übrigen Länder des deutschen Machtbereichs ausgedehnt wurde.

 

Obwohl Hitler von einem "Entscheidungskampf" der Weltanschauungen sprach und der Wehrmacht gegenüber mit dem Code-Namen (Unternehmen "Barbarossa") an die Kreuzzugsidee anknüpfte, führte die NS-Führung den Feldzug gegen die Sowjetunion nicht, um die "bolschewistischen" Russen zu "bekehren", sondern um sie zu unterwerfen. Ihre "Befriedung" geschähe - so Hitler in einer Besprechung im "Führerhauptquartier" am 16. Juli 1941 - "am besten dadurch, dass man jeden, der nur schief schaue, totschieße". Schon zwei Tage vor dem deutschen Überfall hatte der im April 1941 zum "Beauftragten für den Ostraum" bestellte Alfred Rosenberg festgestellt, dass Deutschland "heute nicht einen Kreuzzug gegen den Bolschewismus" führe, sondern sich für kommende Jahrhunderte ein Kolonialreich vor der Haustüre sichern wolle - dementsprechend war die Besatzungspolitik nicht nur durch Unterdrückung der einheimischen Bevölkerung, sondern vor allem durch wirtschaftliche Ausplünderung gekennzeichnet.

 

Bereits die Form der Kriegsführung verfolgte den Zweck der Schaffung von "Lebensraum". So kündigte Hitler in der erwähnten Besprechung am 16. Juli beispielsweise an, er wolle "Leningrad dem Erdboden gleichmachen lassen, um es dann den Finnen zu geben". Der "Führererlass über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Gebiet Barbarossa" (13. Mai) sowie die "Richtlinien für das Verhalten der Truppe in Russland" (19. Mai) hatten bereits Wochen vor dem Überfall die nötigen Voraussetzungen geschaffen, dass die Wehrmacht diese Missachtung jeglicher Normen des Völkerrechts unterstützte: "Gegen Ortschaften, aus denen die Wehrmacht hinterhältig oder heimtückisch angegriffen wurde, werden unverzüglich [...] kollektive Gewaltmaßnahmen durchgeführt", wobei "für Handlungen, die Angehörige der Wehrmacht und des Gefolges gegen feindliche Zivilpersonen begehen, [...] kein Verfolgungszwang" bestehe - "auch dann nicht, wenn die Tat zugleich ein militärisches Verbrechen oder Vergehen ist", hieß es im Gerichtsbarkeitserlass. Die "Richtlinien" vom 19. Mai verlangten "rücksichtsloses und energisches Durchgreifen gegen bolschewistische Hetzer, Freischärler, Saboteure, Juden".

 

Die als "Disziplinarerlass" bezeichnete Beilage des OKH vom 24. Mai zum Kriegsgerichtsbarkeitserlass hatte nicht - wie verschiedentlich behauptet - den Zweck, den Führererlass zu korrigieren oder die Soldaten zur Einhaltung des Völkerrechts zu verpflichten, sondern sollte eine "Verwilderung der Truppe" und "willkürliche Ausschreitungen einzelner Wehrmachtsangehöriger" verhindern; immerhin stellte der Disziplinarerlass aber einen bestimmten Rückhalt für menschlich eingestellte Soldaten dar. Tatsächlich lieferte sich ein Soldat, der sich weigerte, an Gräueltaten mitzuwirken, in der Regel zwar dem Gespött der Kameraden, nicht aber der deutschen Kriegsgerichtsbarkeit aus.

 

Der "Kommissarbefehl" vom 6. Juni 1941 bedeutete die Aufhebung sämtlicher völkerrechtlicher Schutzbestimmungen für Kriegsgefangene: Er verfügte die Liquidierung aller politischen Amtsträger unter den gefangen genommenen sowjetischen Soldaten. In den Berichten einzelner Truppenteile wurde in den ersten Wochen des Feldzuges gemeldet, wie viele "Kommissare" erschossen worden seien. Mit der Verlangsamung des deutschen Vordringens wurde seitens der Wehrmacht eine Rücknahme des Befehls vorgeschlagen, um sowjetischen Truppenteilen die Kapitulation zu erleichtern, was Hitler aber ablehnte. "Kommissare" wurden nun von den "Einsatzgruppen" in den (von der Wehrmacht geleiteten) Kriegsgefangenlagern ausgesondert und "sonderbehandelt". Die Modifizierung des Befehls erfolgte erst im Frühjahr 1942.

 

Das Verhungernlassen von mehr als der Hälfte der Kriegsgefangenen (im Winter 1941/42 kamen täglich etwa 6000 in deutschem Gewahrsam befindliche sowjetische Soldaten ums Leben) war ebenfalls Ausdruck der Einbeziehung der Wehrmacht in das Vernichtungsprogramm.

 

Auseinandersetzungen gab es innerhalb der nationalsozialistischen Führung über "rassepolitische" Fragen, nämlich inwieweit die deutschen Okkupanten trachten sollten, Kollaborateure zu rekrutieren. Während "Ostminister" Rosenberg für ein Ausspielen der Ukrainer und anderer Völker gegen die Russen eintrat, arbeitete die SS einen Plan zur Verlegung der deutschen "Volkstumsgrenze" um 1000 km nach Osten aus. Dieser "Generalplan Ost" sah vor, in einem Zeitraum von drei Jahrzehnten 10 Millionen Deutsche in den eroberten Gebieten anzusiedeln, rund 14 Millionen Bewohner der europäischen Sowjetunion einzudeutschen und weitere 31 Millionen nach Sibirien auszusiedeln. Um diese Bevölkerungszahlen zu erreichen, sollten vorher allerdings etwa 5 bis 6 Millionen Juden und weitere Millionen Russen - vor allem Einwohner der großen Städte, die als "unnütze Esser" betrachtet wurden - umgebracht werden. Die Einsatzgruppen der SS begannen daher unverzüglich mit der Liquidierung von Männern, Frauen und Kindern. Sie "durchkämmten" die eroberten Städte nach Juden und veranlassten, "wenn auch unter erheblichen Schwierigkeiten" - so der Leiter der der Heeresgruppe Nord zugeteilten Einsatzgruppe A im Oktober 1941 - "einheimische antisemitische Kräfte zu Pogromen".

 

Sofort nach der Einnahme von Kiew traf die Einsatzgruppe C mit den Wehrmachtsstellen der Heeresgruppe Süd Vorbereitungen zur Ermordung von "mindestens 50.000 Juden". Am 29. und 30. September 1941 wurden in der Babi-Jar-Schlucht 33.771 Menschen erschossen. Ihre Kleidung wurde auf 137 Lkw verladen und der NS-Volkswohlfahrt übergeben. Am Massaker beteiligte sich auch das Polizeibataillon 314 des Polizeiregiments Russland-Süd (später: Polizeiregiment 10), dem viele Österreicher angehörten.

 

Im Tätigkeitsbericht der Einsatzgruppe A für die Zeit vom 16. Oktober 1941 bis 31. Jänner 1942 ist die Exekution von insgesamt 229.000 Juden im Baltikum und 41.000 in Weißrussland vermerkt. Diese Massenerschießungen der ersten Kriegsmonate waren der Beginn der systematischen Ermordung der jüdischen Bevölkerung, lange vor der oft irrtümlich als Auftakt zum Holocaust verstandenen "Wannseekonferenz" vom 20. Januar 1942. Zwar war bereits nach dem deutschen Überfall auf Polen im Herbst/Winter 1939 eine große Anzahl von Jüdinnen und Juden getötet worden, doch erst die systematischen Exekutionen im Gefolge des Überfalls auf die Sowjetunion setzten jenen Mechanismus in Gang, an dessen Ende die Massentransporte in die Vernichtungslager standen.

 

Da die Tötungskommandos "den seelischen und moralischen Belastungen dieser Massenerschießungen auf die Dauer nicht gewachsen" waren, setzte SS-Chef Himmler "Fachleute in Vergasungsfragen bei der Vernichtung von Geisteskranken in den Heil- und Pflegeanstalten" für die nach ersten Versuchen im September zu Jahresende 1941 "groß anlaufende Vergasungsaktion im Osten" ein. Die Massentötungen erfolgten zuerst mittels Gaswagen, sodann wurden in Vernichtungslagern im "Generalgouvernement" stationäre Gaskammern in Betrieb genommen.

 

Im "Ostministerium" stimmte man diesen Zielen - besonders der Ermordung aller Juden - im Prinzip zu, hielt aber den Weg, "das Russentum zu liquidieren", für undurchführbar und trat daher für eine "völkische Aufsplitterung" ein. Hitler selbst plante, die Krim und ihr Hinterland ("Taurien"), das deutsche Siedlungsgebiet an der Wolga sowie das Erdölgebiet um Baku direkt dem Deutschen Reich einzuverleiben. Die westlichen Teile der Ukraine wurden dem "Generalgouvernement" zugeschlagen bzw. - als "Transnistrien" - dem verbündeten Königreich Rumänien übergeben. (Nach "Transnistrien" wurde die jüdische Bevölkerung der Bukowina und Bessarabiens deportiert.) Die übrigen besetzten Gebiete sollten in - von deutschen Beamten verwaltete - "Reichskommissariate" geteilt werden, von denen die Reichskommissariate "Ostland" (baltische Republiken und Weißrussland) sowie Ukraine schon im Juli 1941 eingerichtet wurden. Die deutsche Verwaltung war bestrebt, das Land restlos auszupowern, um die Versorgungslage in Deutschland zu verbessern. Eine Verpflichtung, in den eroberten Gebieten "das russische Volk mit zu ernähren", sahen die Besatzungsbehörden nicht.

 

Viele Fragen im Zusammenhang mit diesem Krieg waren in der Sowjetunion lange Zeit tabu, sogar die genaue Zeit der Opfer, die im Westen auf 20 Millionen geschätzt wurde. Sowjetische Wissenschaftler haben in den 1990er Jahren diese Zahl nach oben korrigiert: mindestens 27 Millionen. Im Westen - besonders in der Bundesrepublik Deutschland - wurde der Überfall Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion immer wieder mit angeblichen Angriffsplänen Stalins in Verbindung gebracht (denen Hitler zuvor gekommen sei), während die Rolle dieses Krieges für den Holocaust oft, wenn überhaupt, nur am Rande behandelt wurde.

 

 

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