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Juden am Bahnhof

Walter Lindenbaum

Bahnhofstelle. Kofferträger. Menschenmenge.
Lärm. Geschrei.
"Nächster Zug geht neunzehn zwanzig, drüben -
auf Gleis zwei."
Eine Viertelstunde Zeit noch und
dann dampft der Zug davon.
Ach, wer kennt nicht dieses Warten,
dumpf und bang auf dem Perron.
Auf der Bahnhofsuhr die Zeiger kriechen
unbarmherzig kalt,
Denn die Zeit kennt keine Ruhe und
keinen Aufenthalt.
Händedrücke, Segenswünsche.
Wehmut jedes Herz befällt.
Was ist los? Nichts.
Ein paar Juden fahren in die weite Welt.

 

Eine alte Frau schluchzt leise und
sie streichelt ihren Sohn:
"Schreib sofort, Mama. Du weißt doch" -
kleine Szene am Perron.
Nebenan da steht ein Mäderl,
das vielleicht vier Jahre alt,
An der Mutter Schoß geklammert,
sucht die Kleine ängstlich Halt.
Ahnt sie, daß der Vater wegfährt?
Wann sie ihn wohl wiedersieht?
Kleines Mädchen, du bist glücklich,
weißt nicht, was um dich geschieht.
Und der Gatte krampfhaft lächelnd
Frau und Kind umfangen hält.
Was ist los? Nichts.
Ein paar Juden fahren in die weite Welt.

 

Und es fliehen die Minuten,
unerbittlich ist die Uhr.
Diese letzte kleine Frist
wird den Menschen zur Tortur.
Soviel möchte man noch sagen,
jeder Satz wird hier zur Qual.
Und aus Angst, banal zu werden,
wird man schließlich doch banal.
"Hast du einen Platz beim Fenster?
Besuch' die Tante in Brooklyn!
Brot und Wurst lieg'n oben im Koffer -
Fühlst du, wie ich traurig bin?"
Sätze klingen oft belanglos,
wenn man seinen Schmerz verstellt.
Was ist los? Nichts.
Ein paar Juden fahren in die weite Welt.

 

Türen werden zugeschlagen und
der Zug fährt langsam ab.
In den Augen brennen Tränen,
mit dem Zug läuft man im Trab.
Noch einmal sucht man das Antlitz zu erhaschen,
rasch im Flug.
Winkt verzweifelt, stammelt Worte,
immer schneller fährt der Zug.
Und dann ist er jäh entschwunden,
ach er ist ein Pünktchen schon,
Und noch immer stehn die Menschen
und sie winken am Perron.
Und sie winken und sie starren und
ihr Blick ist schmerzentstellt.
Was ist los? Nichts.
Ein paar Juden fahren in die weite Welt.

 

Unbarmherzig ist das Schicksal,
treibt uns Juden hin und her.
Immer steh'n wir wo am Bahnhof,
immer fällt der Abschied schwer.
Und Familien, sie zerfallen,
der bleibt hier und der fährt fort.
Bahnhof, Bahnhof, wieviel Tragik
liegt in diesem kleinen Wort!
Ungewiß ist uns're Zukunft, uns're Reise ist so lang.
Ist denn unser ganzes Leben
nur ein ew'ger Schienenstrang?
Und der Pfiff des fernen Zuges
jetzt in meinem Ohr noch gellt.
Was ist los? Nichts.
Ein paar Juden fahren in die weite Welt.

 

Aus: Walter Lindenbaum, Von Sehnsucht wird man hier nicht fett. Texte aus einem jüdischen Leben, hrsg. v. Herbert Exenberger und Eckart Früh, Wien: Mandelbaum 1998, S. 78 ff.

 

 

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