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Ephraim Lahav (Erich Feier): Exil im eigenen Land

Ephraim Lahav, geb. 1923 in Wien als Erich Feier, als Jugendlicher Angehöriger des rechtsgerichteten zionistischen Jugendbunds "Betar", 1939 Leiter einer Jugendgruppe der religiös-zionistischen Partei "Misrachi". Ende 1939 mit einem illegalen Transport von Pressburg/Bratislava aus per Schiff Richtung Palästina, die Fahrt von mehr als 1000 Juden und Jüdinnen endete Anfang 1940 im serbischen Donauhafen Kladovo. Etwa 200 Jugendliche, darunter Lahav, erhielten kurz vor dem deutschen Überfall auf Jugoslawien (April 1941) Zertifikate (Visa) für Palästina, fast alle der übrigen jüdischen Gestrandeten wurden 1941 bzw. 1942 ermordet.


Lahavs Vater Siegmund Feier (geb. 1894) flüchtete Anfang 1939 nach Shanghai und erlebte dort das Kriegsende. Seine Mutter Rosa Feier (geb. 1900) und sein Bruder Fritz (geb. 1935) wurden im September 1942 in das Ghetto Theresienstadt deportiert und von dort im Mai 1944 nach Auschwitz überstellt; beide wurden Opfer der Shoah.

 

 

Am Morgen nach der "Kristallnacht" war ich zufällig im Geschäft meiner Eltern, da kommt ein Mann herein und verlangt im Befehlston Einsicht in den Gewerbeschein. Meine Mutter hat den Schein hervorgeholt, worauf der Mann sagte: "Sie haben den Betrieb bis" – soundso – "zu schließen." Ich weiß nicht mehr, welche Frist gesetzt wurde, aber sie war sehr kurz, und er drohte, uns einen kommissarischen Verwalter zu schicken. Ein kommissarischer Verwalter wäre ein Unglück gewesen; er hätte das Geschäft totgesaugt. Ich glaube, wir haben das Geschäft tags darauf einem befreundeten Nichtjuden übergeben.

 

Auch unsere Wohnung in der Sonnenfelsgasse mussten wir bald räumen. Zwar stand sie unter Mieterschutz und das Haus gehörte der Gemeinde Wien, aber unser Einspruch brachte uns nur einen Aufschub von zwei Monaten. Der Schutz entfiel laut Gesetz, wenn der Mieter "einen erheblichen nachteiligen Gebrauch" von der Wohnung machte. Und der Richter hat befunden: "Wenn der Mieter Jude ist, dann ist der Tatbestand des 'erheblichen nachteiligen Gebrauchs' gegeben". Die Behörden haben uns dann für fünf Personen – Eltern, Großmutter, Bruder und mich – ein Zimmer mit Küchenbenützung in einer Wohnung im 2. Bezirk, in der Krummbaumgasse, zugewiesen.

 

Wegen des Platzmangels, und weil wir sonst keinerlei Einkommen und auch keine Ersparnisse hatten, haben wir fast unser ganzes Mobiliar verkauft, wie die meisten Juden Wiens. Das schuf eine Möbelschwemme von einem Ausmaß, das zu Beschwerden der Möbelhändler führte. Denn wer Möbel brauchte, ist zu den Juden gegangen. [...]

 

Am 1. September, einem Tag, der in meiner Erinnerung unauslöschlich eingeprägt ist, brach der Krieg aus; gleichzeitig hat die Jugendalijah alle restriktiven Auswahlkriterien widerrufen. Wer nur konnte, wurde mitgenommen, auch ich. [...]

 

Bis dahin, fast unbemerkt, aber dennoch mit beißender Härte, vollzog sich in meiner Familie ein Prozess der Deklassierung. Wir hatten zwar immer in sehr bescheidenen Verhältnissen gelebt, waren aber nie auf Wohltätigkeit angewiesen. Jetzt waren wir es. Gegenüber unserer Wohnung befand sich eine jüdische Ausspeisung. Eine Zeitlang zögerten wir, aber als das Geld immer knapper wurde, haben wir uns dort eintragen lassen und uns täglich das Mittagessen abgeholt, die einzige warme Mahlzeit im Tag. Aus schaffenden Menschen waren wir zu Bettlern geworden. Und das Schlimmste daran war, dass uns das gar nicht störte. Wir hatten uns an die Degradierung angepasst. Erst jetzt, im Retrospekt nach so vielen Jahrzehnten, kommt es mir zu Bewusstsein, wie man uns unsere Menschenwürde gestohlen hat.

 

Meine Eltern waren noch etwas besser dran als viele andere. Sie haben eine Anstellung bekommen in der Ausspeisung, meine Mutter als Köchin, mein Vater als Arbeiter, für je 60 Mark im Monat. Das war ein Hungerlohn, aber genug zum Essen hatten wir ja.

 

Was uns viel mehr Sorgen gemacht hat als das soziale Absinken, war die zunehmende Verzweiflung über die Auswanderungsmöglichkeit. Das war die Stimmung unter allen Juden in Wien.

 

Etwa zwei Monate nach dem "Anschluss" haben wir begonnen, uns um eine Ausreise zu bemühen, aber viele andere versuchten das auch. Zuerst haben wir versucht, in zivilisierte Länder zu kommen. Wer wollte denn schon nach China oder Afrika auswandern? Doch andere fuhren gleich dorthin. Und als wir bereit waren, überall hinzuwandern, da war es zu spät. Wir waren zionistisch gesinnt, aber so wie heute die Zionisten in Amerika. Eine Auswanderung nach Palästina in der fernen Zukunft schlossen wir nicht aus, aber das stand nicht vor der Tür. Wir hatten uns nie ernsthafte Gedanken darüber gemacht. Nach dem "Anschluss" wollten wir sofort fahren, doch dann war es fast unmöglich.

 

Dann kam die Wartezeit auf die Konferenz von Evian. [Auf Initiative Franklin Roosevelts wurde am 6. Juli 1938 in Evian (Schweiz) eine internationale Flüchtlingskonferenz einberufen. Trotz dieser Konferenz hoben die klassischen europäischen und außereuropäischen Immigrationsländer ihre drastischen Einreisebeschränkungen nicht auf.] Als auch diese Konferenz ergebnislos verlief, überkam uns alle ein Gefühl der schrecklichen Verlassenheit. Wir waren Ausgestoßene. Die Welt wollte uns nicht haben. Alle Tore waren versperrt. Die materielle Not hätten wir viel leichter ertragen können, auch die Verbannung aus der Gesellschaft, die erniedrigenden Schilder "Juden ist der Eintritt verboten", die Verachtung in der Öffentlichkeit, die Hetze und die Karikaturen in der Presse.

 

Aber das Exil im eigenen Land, die Haltung des Auslandes, das uns wie Parias behandelte – das schuf eine Bedrücktheit, deren Wunde bis heute nicht vernarbt ist. Und trotz alledem: Auch in Stunden ärgster Niedergeschlagenheit haben wir nie daran gezweifelt, dass es besser wird und dass Deutschland den Krieg verliert. Nie ein Zweifel! Vielleicht – so rekonstruiere ich heute unsere geistige Verfassung von damals – dachten wir unterschwellig, dass nicht sein kann, was nicht sein darf.

 

 

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