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Clementine Zernik: Mir hat der Hass geholfen

Clementine Zernik, geb. 1905 in Wien, Juristin. Im Juli 1938 aus rassistischen Gründen aus der Rechtsanwaltskammer ausgeschlossen. Ab August 1938 Exil in den USA. Betätigung für die "Austrian Action". 1944 bis 1945 Arbeit für die American Broadcasting Station in Europe in Großbritannien.

Nach Kriegsende Betreuung von Flüchtlingen in Lagern der UNRRA in Europa. 1948 bis zu ihrer Pensionierung 1975 Bibliothekarin und "Liaison to the United Nations" an der New York Public Library. Präsidentin der Austrian-American Federation.

Verstorben 1996.

 

 

Mit diesem Affidavit bin ich eben mit meinem ersten Mann Ende Juli von Europa weggefahren und am 3. August 1938 in den USA angekommen. Es war schrecklich. Einer der heißesten Tage, man wusste nicht, was einen getroffen hat. Wir haben kaum jemanden gekannt. Mr. Wachtel, der Affidavitgeber, war so liebenswürdig und hat uns auf einen Monat wo untergebracht. Wir hatten aber niemanden, um uns zu besprechen. Es war Sommer, und es war niemand da. [...]

 

Zuerst bin ich zu einer der damaligen jüdischen Organisationen gegangen. Ich glaube, es war der "Council of Jewish Women". Ich muss ganz ehrlich sagen, die haben für uns gar nichts gemacht damals. Die Katholiken hatten es besser: Ich hatte eine katholische Schulkollegin, "Halbjüdin", die wurde sofort auf einer University genommen und durfte dort studieren. Sie hat eine sehr schöne wissenschaftliche Karriere gehabt und ist dann hier Professor geworden vor ein paar Jahren. Aber uns wurde im besten Fall ein Dienstbotenposten angeboten. Die jüdischen Organisationen haben uns damals nur Dienstbotenposten verschafft, im Jahre 1938. Später ist es vielleicht ein bisschen besser geworden, aber viel auch nicht. Nicht dass es mir etwas geschadet hätte, ich war stolz darauf: "Ich kann alles. Ich werde es dem Hitler schon zeigen. Ich komme hier durch in jeder Art." Aber es war natürlich furchtbar schwer. Ich habe die Sprache kaum gekannt, nur ein paar Worte. Mein Mann hat überhaupt keine Arbeit bekommen. Es waren die schlechtesten Zeiten. Es war die tiefste wirtschaftliche Depression. Von allen unseren Leuten, die etwas bekommen haben im Laufe der ersten zwei, drei Jahre, waren es nur die Frauen, und zwar meistens in Haushalten. Die Männer haben kaum Jobs als Geschirrwäscher gefunden. Denn da haben sie auch gesagt, sie nehmen lieber Amerikaner. Natürlich, Leute, die mit Geld kamen, das war etwas anderes. Wir hatten nichts. Mein Vater war Staatsbeamter, und der hätte nie erlaubt, dass man schwindelt und Geld schmuggelt. [...]

 

Ich bin 1939 zu dem jüdischen Verein gegangen und hab um ein "scholarship" [Stipendium] gebeten, das heißt freies Studium. Und da wollten sie zuerst nicht recht. Ich wollte schon damals Bibliothekarin werden. Ich hab mir gedacht: "Was kann ich?" Ich hab viel gelesen, war viel in Bibliotheken. Sie haben aber gesagt: "Nein, Bibliothekarin ist gar nichts." Sie haben überhaupt nichts verstanden. "Du musst Lehrerin werden." Nun, Lehrerin war damals - besonders Latein - das Schlechteste, was es gibt. Auch Deutsch - denn es war schon Vorkriegszeit, war 1939. Ich bin auf das Teachers College, das ist ein Teil der Columbia University, gegangen und habe zu einem "Master's Degree" studiert, was damals auch etwas Seltenes war. Jeder Lehrer hat ein so genanntes "Bachelor Degree" gehabt und nach sagen wir zehn Jahren hat er zum Master studiert, um Headmaster [Leiter, Direktor] einer High School zu werden. Nun, ich war ein Unikum. [...]

 

Nach dem Jahr war ich nicht fertig. Es haben mir noch einige Kurse gefehlt. Es war ohnedies das Maximum, das man hineinpressen konnte, und da hat dann leider dieser Referent bei der jüdischen Organisation gesagt, mehr als ein Jahr gibt er mir nicht und Schluss. Den Rest muss ich alleine machen. Also habe ich mir eine Stelle als Sekretärin genommen, in der Wall Street bei einem gewissen Dreyfus, das war einer der europäischen Millionäre, so wie Rothschild, und hab am Abend weiterstudiert. Kaum war ich fertig, wollte der Referent das Geld zurückhaben, nachdem er fast verhindert hatte, dass ich fertig werde. Also das waren schreckliche Aufregungen. [...]

 

Dann habe ich eine Stelle gesucht als Lehrerin, durch die Columbia University. Ich hatte sehr gute Zeugnisse. Aber wie ich hinkam, hat der Zuständige gesagt, ich hätte drei Schwierigkeiten: Erstens, dass ich kein US-Bürger bin, zweitens, dass ich einen Akzent habe, und drittens, dass ich jüdisch bin. Das ist eben die Columbia gewesen. Die war protestantisch bis in die Knochen. Die Fordham University war katholisch. Und das war auch interessant. Ich hatte durch meinen Onkel eine Empfehlung bekommen für eine Professur an der Fordham, weil sie einen Griechischprofessor gesucht haben. Es gab fast niemanden, der Griechisch konnte, und ich hatte doch sechs Jahre Griechisch im Gymnasium. Der Professor war sehr nett. Bei ihm war es wie in Faustens Studierstube, mit uralten Büchern, Globen und so. Er hat gesagt, ich wäre die Einzige, die wirklich in Frage käme, aber sie könnten mich nicht aufnehmen, da ich jüdisch bin. Und dann hat er noch gesagt: "Wenn Sie katholisch werden, dann könnte man vielleicht etwas machen." Nun, ich bin vollkommen unreligiös, aber für eine Stelle würde ich nie die Religion ändern. [...]

 

Der österreichische Verein, die Czernin-Gruppe, ist schon 1939/40 gegründet worden. [Die Austrian Action, eine Sammlungsbewegung parteipolitisch nicht gebundener österreichischer Emigranten, wurde am 5. April 1941 gegründet.] Es ist komisch, ich erinnere mich nicht an das Datum. Graf Ferdinand Czernin, der Sohn des letzten Außenministers von Kaiser Karl, war wirklich ein phantastischer Mensch. Denn er war hochintelligent, gescheit, tüchtig, hat sich sehr gut mit Amerikanern verstanden. Und das, was man ihm vorwirft, dass er ein bisschen ein Playboy war, das hat nicht geschadet bei den Amerikanern. Der verstand es, mit ihnen auszugehen oder zu einer Cocktail-Party. Er hat die besten Beziehungen im State Department [Außenministerium] gehabt. Der Czernin war derjenige, der es durchgesetzt hat im State Department, dass die Österreicher in Amerika als "Citizens of a non-enemy country" [Bürger eines nicht-feindlichen Landes] anerkannt wurden und nicht als "enemies" [Feinde]. [...]

 

Jede Exilgruppe hat damals die alte österreichische Politik weitergeführt. Aber der Czernin war der Einzige, der eigentlich unpolitisch war. Am ehesten könnte man seine Gruppe nennen, was man in den 30er Jahren eine bürgerlich-demokratische Partei genannt hat. Es war eine Mittelpartei, und bei uns wurde eigentlich Politik nicht behandelt. Wir haben über 1000 Mitglieder gehabt, und ich war die Leitung der Mitgliedschaft, das Büro. Er war der Kopf, er war der politische Chef, er hat mit den Amerikanern verhandelt. Aber er hat gewusst, ich bin da und mache alles andere. Er hat für Österreich ungezählte Artikel geschrieben und Radiovorträge gehalten. [...] Ich habe Angestellte angenommen, finanziert durch die Mitgliedsbeiträge, Volontäre gefunden, immer und immer noch meine Freunde, die ja zum Teil oft arbeitslos waren. Immer sind sie gekommen und haben freiwillig bei uns mitgearbeitet. Wir haben gearbeitet wie ein kleines Konsulat. Wir haben den Leuten geholfen, ihre Papiere in Ordnung zu bringen. Meine Übersetzung von dem Heimatschein, den sie drüben nicht gekannt haben, den sie gar nicht verstanden haben, die ist im Immigration Service gehangen als Musterübersetzung. Wir haben wirklich den Leuten geholfen. Wir haben ihnen Stellungen verschafft. Wir sind bekannt geworden. Ich erinnere mich, einmal hat die indische Botschaft in Washington bei uns angefragt, sie brauchen eine Köchin, die fleischlos kochen kann. Wir haben dann Konzerte veranstaltet, wir haben Vorlesungen und zum Schluss Theater veranstaltet. Das alles hat dann später weitergelebt, es ist nicht gestorben, wie die "Austrian Action" gestorben ist. Wir haben an einem 13. März eine Blutspendeaktion gemacht für das amerikanische Rote Kreuz. Damals haben sich 300 Österreicher gemeldet, das ist enorm. Wir haben einen Umzug von allen "überrannten Nationen", "overrun nations", auf der 5th Avenue organisiert: die Österreicher mit der österreichischen Fahne, und dann waren die Polen und die Norweger und die Tschechen etc. Ich weiß nicht, ob damals schon die Ungarn dabei waren. Die sind marschiert von der ersten Straße bis zur 86. Es war eine unerhörte Sache. [...]

 

Mir hat der Hass geholfen, wirklich, der Hass auf Hitler: Ich lass mich nicht unterkriegen. Das ist wirklich wahr, weil ich habe ja alles verloren: Meinen Beruf, denn der juristische Beruf ist nichts, wenn man rüberkommt. Ein Arzt konnte innerhalb einer gewissen Zeit eine Prüfung machen und war wieder Arzt. Jeder Kaufmann konnte Kaufmann sein. Aber ein Jurist war nichts. Dadurch, dass wir das Römische Recht als Grundrecht haben, während in Amerika das Britische oder Englische Gewohnheitsrecht besteht, gab es überhaupt keine Verbindung. Ich habe das Glück gehabt, dass ich irgendwie wieder raufgekommen bin. Aber ich kannte viele Bekannte, die, sagen wir, einen "Nervous Breakdown" [Nervenzusammenbruch] gehabt haben. Sie wurden irgendwie erhalten. Es gab ja Folgendes: Wir hatten ein "Affidavit of Support", das heißt, jemand musste uns ein Affidavit schicken, dass wir hinüberkommen konnten, und der musste Geld haben. Man hat irgendwie, soweit ich mich erinnern kann, diesem Affidavitgeber immer versprochen: "Ich werde dir nie zur Last fallen." Und für mich war 's heilig. Ich glaube, ich hätte nie krank werden können, denn ich wäre ja sonst in den ersten fünf Jahren dem Affidavitgeber zur Last gefallen. Manche konnten das aber nicht verhindern. Es waren wirklich keine Selbstmordfälle unter meinen Freunden, ich kannte aber sehr viele, die zusammengebrochen sind in den ersten Jahren. Sie konnten es einfach nicht ertragen. Es war zu viel auf einmal: Die Familie verloren, Beruf verloren, Heimat verloren, und sie kamen in ein Land, das vollkommen fremd war. Heute ist Amerika nicht so fremd, aber damals war es wirklich sehr schwer. Am meisten lag es am Herzen, Affidavitgeber für Verwandte und Freunde zu finden, um sie zu retten. Ich habe mich ja auch sehr bemüht. Fast würde ich sagen, jeden Tag, jede freie Minute bin ich zu jemandem gegangen und habe um Affidavits für Verwandte und Freunde gebettelt. Das war der "Hauptberuf" neben dem Brotberuf. Dieser Mr. Wachtel, der mir das Affidavit sandte, hat vielleicht 60 Affidavits gegeben, er war ganz großartig. Persönlich war er eigentlich eine große Enttäuschung, denn wir kannten ihn schon in Wien - er hat meinen Onkel besucht, er war bei uns wie ein Ehrengast. Wir haben ihn in die Oper in eine Loge geführt in Wien, auf den Kahlenberg. Und alle haben gesagt: "Wenn du nach New York kommst, wird er dich ins Büro nehmen und wird dir ermöglichen zu studieren." Es war aber nicht so. Er hat mir dieses Zimmer verschafft für vier Wochen, das war alles - er hatte zu vielen zu helfen.

 

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