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Anton Jelen: Unruhestifter

In der Zeit vor dem Plebiszit gab es natürlich ständig Konflikte. Mein ältester Bruder Franz war damals 18 bis 20 Jahre alt und war beim christlichen slowenischen Turnerverein, bei den Orli. Das war allgemein bekannt. Als er einmal am Sonntag in die Kirche ging - wir gehörten zur Pfarre Bleiburg und da musste man in Unterloibach um die Friedhofsmauer gehen -, überfiel ihn hinter der Friedhofsmauer ein Bauernbursch mit einer Mistgabel. Mein Bruder konnte noch ausweichen und kam nach Hause zurück. Dieser Bauernbursch war der Bruder des späteren nazistischen Bürgermeisters von Loibach.


Dann war die Volksabstimmung, die Jugoslawien verlor. Meine Familie stimmte für Jugoslawien, ganz offen. In den ersten Tagen nach der Volksabstimmung gab es natürlich in der Familie eine Weltuntergangsstimmung, aber nicht nur deshalb, weil man sehr betroffen oder traurig war, sondern mehr aus Angst. Man hatte Angst vor dem, was jetzt kommen würde. Mein Vater stammte aus einer Gegend, die heute zu Jugoslawien gehört, und zwar aus der Gegend Uršlja gora, das heißt von den Bergen um das Mießtal, Ursulaberg heißt das auf Deutsch. Er hatte Verwandte da drüben, und diese rieten ihm: "Verkauf oben und kommts her." Meine Eltern sagten aber: "Wir bleiben da", genauso meine Brüder. Sie wollten die Heimat nicht aufgeben. [...]


Dann kam für mich die Schulzeit. Die Schule war praktisch neben unserem Haus, keine 100 Meter entfernt. Wir hatten in der zweiten Abteilung als Lehrer diesen Scheschark. Er war als Lehrer gut. Aber er war so eingestellt, dass er jene Kinder, die von bewusst slowenischen Eltern waren, immer ein bisschen schief anschaute. Er brachte auch seinen Geographie- oder Geschichtsunterricht so, dass er uns in die deutschnationale Richtung drängte. Eigentlich hätten wir ja auch Slowenisch lernen müssen. Wir waren in einer utraquistischen Schule, wo in der ersten Klasse, in der die ersten beiden Jahrgänge zusammengefasst waren, Slowenisch unterrichtet wurde, damit die Kinder überhaupt verstanden, was der Lehrer von ihnen wollte. Und zu den slowenischen Worten lernten wir dann die deutsche Bedeutung, damit wir ab der dritten Schulstufe den Oberlehrer Scheschark verstehen konnten, der nur Deutsch mit uns sprach. Allerdings gab es einen Stundenplan, auf dem vermerkt war, wie viele Stunden Slowenischunterricht zu halten sei. Nur erlebte ich in der zweiten Klasse nie eine slowenische Stunde. Der Oberlehrer beachtete das überhaupt nicht, sodass wir Slowenisch nur im Religionsunterricht hörten. Einmal kam der Schulinspektor aus Völkermarkt, er war der Sohn eines Kleinbauern aus Unterloibach, inspizieren und fragte uns Kinder: "Na, und wie geht 's euch mit dem Slowenischunterricht? Lernt ihr auch Slowenisch?" Wir waren irritiert, keiner traute sich, irgendetwas zu sagen, aber der Lehrer war schnell und sagte: "Ja, schon, schon. Aber wir kommen halt weniger dazu." Damit war die Frage abgetan. Der Oberlehrer war als Geographielehrer blendend. Ich bekam von ihm die Liebe zur Geographie vermittelt. Andere Mitschüler lasen zum Beispiel in der Freizeit Tom Shark-Hefteln, aber ich studierte Landkarten. Für mich war die Geographie ein ernstes Hobby. Einmal sprach er in der Geschichtestunde - Geschichtestunde und Geographiestunde waren meistens verbunden - von der Volksabstimmung und verglich die Kärntner Slowenen mit einem Hund, der einem Fremden nachläuft, nur weil der ihm eine Wurst zeigt. Wir saßen damals zu zweit in der letzten Bank. Auf diese Äußerung hin sagte mein Kollege: "Der ist ja auch so einer. Der ist ja auch nur von Gottschee heraufgekommen, weil er geglaubt hat, dass er da besser leben wird." Ich hab gelacht. Der Lehrer saß am Katheder vorn und schmiss mir den Haustorschlüssel direkt an den Kopf. Der hätte mich am Auge treffen können. Ich bin natürlich sehr erschrocken, er aber auch.


Slowenisch lernten wir in der Schule also nicht. Zu Hause bekam ich aber die Liebe zur Literatur eingeimpft. Meine Mutter war eine gewöhnliche Bauersfrau, die aber sehr viel las. Alle anderen in der Familie gingen so um neun Uhr ins Bett, sie setzte sich erst nach der Arbeit hin und las, bis sie hinterm Tisch einschlief. Ich fing in der Volksschule an, Bücher zu lesen, die ich zu Hause erhielt - jene von der Hermagoras-Bruderschaft waren bei uns selbstverständlich. Außerdem hatte meine Mutter mehrere slowenische Monatszeitschriften und das Wochenblatt "Koroški Slovenec" abonniert. Und in der Kaplanei in Bleiburg, da gab es kein Buch mehr, das ich nicht gelesen hätte. Später, als ich am Gymnasium war, borgte ich mir auch Bücher beim Slowenischen Kulturverein aus.


Mit 13 kam ich dann ins Gymnasium. Im Marianum, wo ich Internatsschüler war, gab es folgendes Kuriosum. Es war streng verboten, Slowenisch zu sprechen. Ich könnte es noch verstehen - in der Klasse waren 20 Schüler, davon waren 5 oder 6 Slowenen -, wenn es geheißen hätte: "Ihr dürft nicht Slowenisch reden, wenn ihr mit Deutsch Sprechenden zusammen seid." Aber wir durften ja auch, wenn wir Slowenen allein waren, nicht untereinander Slowenisch reden. Noch kurioser aber war es, dass Brüder untereinander überhaupt nicht sprechen durften, wenn sie nicht im selben Zimmer untergebracht waren. Es gab dort zwei Fälle. Mein Bruder war eine Klasse höher als ich beziehungsweise im Marianum einen Stock tiefer als ich. Mir war es strengstens verboten, mit ihm zu sprechen! Ich musste immer um besondere Erlaubnis bitten. Einmal herrschte mich der Präfekt an, was ich denn mit dem Bruder so viel zu reden hätte. Es war das Heimweh, das mich dazu trieb. Seit dieser schweren "Kränkung" fragte ich nie mehr um Erlaubnis. Das zweite Brüderpaar waren die beiden Zwitter. Franzi und Mirt. Franzi war zwei Klassen vor Mirt. Mirt war mein Mitschüler. Wir leiteten dann eine Art Revolution ein. Es kam ein Tag, da wir auf das Verbot nicht mehr achteten. Wenn wir im Garten beim Spazieren zusammenkamen, redeten wir Slowenisch.


Es gab dann Konsequenzen. Wir, der Zwitter Mirt und ich, flogen aus dem Marianum, und zwar nach der 6. Klasse. Ich kam in den Ferien gerade von einer Radwanderschaft - ich kam sehr viel in Kärnten herum, zu Fuß oder mit Rad - nach Hause, Ende August. Die Mutter weinte, der Vater brummte. "Was ist los?" "Ja, so Sachen machst, machst uns solche Sorgen." Ich sagte: "Was ist denn, um Gottes willen?" Sie zeigten mir den Brief, in dem es hieß: "Das Fürstbischöfliche Marianum muss Ihnen leider mitteilen, dass wir nächstes Schuljahr Ihren Sohn Anton nicht mehr ins Fürstbischöfliche Marianum aufnehmen können, um die Ruhe im Hause zu wahren." Mirt Zwitter beziehungsweise seine Mutter erhielt genau den gleichen Brief, nur der Name war geändert. Dazu war es gekommen, weil wir die Vorschriften nicht mehr ertragen konnten. Wir sagten: "Das ist doch unmenschlich." Das war nicht Erziehung, das war Dressur. Die Erziehungsstatuten stammten praktisch noch aus der Zeit des Tridentinums. So streng waren sie und mir einfach unverständlich. Mein erster Winter im Marianum war 1930 und es war furchtbar kalt. Die Waschräume waren mit Marmorboden und Marmorwaschbecken ausgestattet. Egal wann das war, und wenn es minus 30 Grad hatte, mussten wir uns mit freiem Oberkörper mit eiskaltem Wasser waschen. Eine Heizung gab es nicht. Wenn das Wasser wegspritzte, war es sofort Eis. Dann mussten wir jeden Tag in der Früh in die Kapelle und dort während der ganzen Messe knien. Handschuhe waren verboten. Wir hatten alle an den kleinen Fingern Frostbeulen, weil wir die Hände so hielten, dass wir hineinhauchen konnten. Auf den Knien hatten wir Haut wie Ledersohlen. Sonntags waren zwei Messen, eine in der Früh und die zweite vormittags um zehn oder halb zehn, mit Predigt. Die Kapelle war auch ungeheizt. Es war Pflicht, am Sonntag zur Kommunion zu gehen, werktags war es erwünscht. Ich ging immer am Sonntag zur Kommunion und werktags manchmal auch. Zwei-, drei-, viermal, je nachdem. Aber es hieß: "Du musst nicht", also ging ich nicht immer. Eines Tages ruft mich der Präfekt in sein Zimmer zu einem Gespräch und fragt mich: "Gehst du zur Kommunion auch?" Ich sage: "Ja." "Na, am Sonntag? Gehst jeden Sonntag?" "Ja." Er fragt weiter: "Werktags? Gehst werktags auch?" Ich sage: "Ja, aber nicht immer." Fragt er: "Na, zum Beispiel, wie oft warst du letzte Woche?" Und ich nannte ihm irgendeine Ziffer, dreimal oder viermal. Er stand vom Tisch auf, ging an seinen Schreibtisch, nahm aus der Lade ein Notizbuch und sagte: "Das stimmt nicht, was du sagst. Du warst nur zweimal." In dieser Woche war ich werktags aus Protest zum letzten Mal bei der Kommunion. Was so jemand einem jungen Menschen an Gewissenskonflikten verursachen kann!


Oder das Verbot des Gesprächs unter Brüdern. Es passierte zum Beispiel Folgendes: Ein Schulkollege, der jeden Tag in die Hauptschule fuhr, brachte einmal ein Paket für uns beide mit. Mir gehörte die eine Hälfte, meinem Bruder die andere Hälfte. Nach der Schule teilte ich das Paket und nahm es zum Mittagessen mit, um es meinem Bruder zu geben. Zum Essen mussten wir im Gänsemarsch auf jeder Seite der Stufen gehen, bei strengstem Silentium. Beim Frühstück immer Silentium, beim Mittagessen die erste Hälfte Silentium, während irgendeiner Lesung. Nach dem Mittagessen wieder im Gänsemarsch über die Stiegen, aber nicht in die Zimmer, sondern in die Kapelle. Es gab keine Möglichkeit, das Paket auszuhändigen. Nach dem Gebet wartete ich auf meinen Bruder, gab ihm das Paket und sagte: "Du, der Pepi hat das gebracht. Es ist von der Mutter, das gehört dir." Der Präfekt erwischte mich dabei. Also, das war eine Standpauke damals. Er sagte: "Wenn du dich nicht an die Disziplin halten kannst, dann wirst du gehen." Ich hatte zweimal das Consilium abeundi bekommen, also die Drohung, bei einer weiteren Missachtung der Hausordnung entlassen zu werden.


Oder ein anderes Beispiel. Alle slowenischen Studenten, die damals im Marianum waren, sammelten Bücher. Und zwar veranstalteten in Jugoslawien, in Maribor und Ljubljana, in Kranj und in Celje Studenten eine Sammelaktion. Diese durchwegs alten Bücher schickten sie uns. Ein Teil davon kam nach Bleiburg. Dort holte ich sie ab und brachte sie nach Klagenfurt. Wir fertigten Verzeichnisse an und brachten die Bücher in die Anstaltsbücherei. "Das sind jetzt unsere Bücher", das war unser Stolz. Dann wurde ein Bibliothekar vom Direktor Dr. Brunner ernannt. Wir ersuchten ihn, noch einen slowenischen Studenten zu bestellen, der über die slowenischen Bücher zu verfügen hätte und der die Bücher auch lesen konnte und wusste, wem bestimmte Bücher geborgt werden konnten. Der Direktor sagte: "Nein, das sind nicht eure Bücher." Wir behaupteten: "Das sind doch unsere Bücher, die haben doch wir gesammelt." "In dem Moment, wo ihr sie in unsere Bibliothek eingebracht habt, sind es nicht mehr eure Bücher. Das sind unsere Bücher, und ich werde entscheiden, wer über diese Bücher verfügen kann beziehungsweise sie verteilen kann", meinte er. Er bestellte einen zum Bibliothekar, der kein Wort Slowenisch konnte, ohne unsere Bitten zu beachten. Und das war auch wieder ein Protestfall. So kam es so weit, dass wir als Unruhestifter aus dem Marianum flogen. In Kärnten ist auch heute noch ein Unruhestifter, wer auf seinem Menschenrecht beharrt.

 

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